Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
so viele Türken«, sagt er.
Der nächste Halt ist Berlin-Neukölln, dann folgt Schwerin und schließlich Hamburg. Die letzten Passagiere steigen aus. Hakim parkt in einer Sackgasse und verschwindet in einem Altbau, wo er mit neun Verwandten in einer Drei-Zimmer-Wohnung lebt. Der eigentliche Mieter, ein Hartz-IV-Empfänger, ist zu seiner Mutter gezogen. 100 Euro kassiert er pro Untermieter, 1000 Euro im Monat für eine vom Amt bezahlte Wohnung.
Hakim findet die Wohnung nicht günstig, aber praktisch. Er will nichts mit Deutschland zu tun haben, nicht die Sprache lernen, nicht offiziell existieren in diesem Land. Über die Jahre hat sich Bojan Hakim eine Struktur aufgebaut, um den deutschen Markt zu beliefern. Den Markt der Arbeitgeber, die lieber drei statt acht Euro zahlen, und den Markt der Hauseigentümer, die sich etwas dazuverdienen wollen. Ein Kellerschlafplatz in Wilhelmsburg kostet 150 bis 200 Euro. Polizei und Steuerfahndung merken nur selten, dass ein Kellerflur mit sechs Räumen einem listigen Vermieter bis zu 4000 Euro steuerfreies Zusatzeinkommen im Monat bescheren kann.
Es gibt in Hamburg ein Gesetz, das jeder Person zehn Quadratmeter Wohnraum einräumt. Zehn Quadratmeter pro Person? Seyit Erfan (Name von der Redaktion geändert) lacht. Vor elf Wochen hat ihn Hakim nach Wilhelmsburg transportiert und ihm einen Job und einen Schlafplatz vermittelt. Jetzt lebt er in einem Kellerabteil eines verwitterten Backsteinbaus, es gibt eine Couchgarnitur und zwei durchgelegene Matratzen, die Wände sind keine zwei Meter hoch, in der Luft hängt der Geruch von Zigarettenqualm und Schweiß.
Vier bulgarische Tagelöhner wohnen hier auf knapp acht Quadratmetern. Auf dem Boden stehen ein Gaskocher, Thunfischkonserven und Lebensmittel in Lidl-Tüten. Am eingang nagen Ratten an Müllresten. Sechs solcher Räume reihen sich auf dem Kellerflur. In manchen der Abteile wohnen Familien mit Kindern. Es riecht nach feuchter Kleidung, Babywindeln und Kanalisation.
150 Euro zahlt Erfan monatlich für seinen Schlafplatz. Ein Tag Verspätung kostet ihn zehn Euro extra. Die Logistikfirma, an die ihn Hakim vermittelte, beschäftigte ihn nur drei Wochen. Erfan, 46, war dem Lagerleiter zu alt, nicht schnell und kräftig genug. Seitdem steigt er jeden Morgen ziellos aus dem Keller, stellt sich auf den Marktplatz und wartet. Wenn er Glück hat, kann er für zehn Euro drei Stunden lang eine Wohnung entmüllen. »Wir behandeln im Dorf unsere Hunde besser als die Leute hier die Bulgaren«, sagt er und geht über den Platz in ein Internetcafé auf der Veringstraße. In Sliwo Pole sitzt seine Frau vor dem Computer. »Soll ich nicht zurückkommen?«, fragt Erfan immer wieder mit leiser Stimme. »Auf gar keinen Fall, hier bist du arbeitslos«, antwortet seine Frau. »Wann holst du uns endlich nach Deutschland?«, fragt sie dann, wie jeden Tag.
Erfan könnte erzählen, dass heute Morgen die Polizei in den Kellerräumen war, dass sein neuer Schlafplatz ein Dachgeschoss ohne Toilette, ohne Dusche, ohne Küche werden wird. Er könnte erzählen, dass er dann drei Straßen weiter laufen muss, um sein Gesicht zu waschen oder die Toilette bei seinen Verwandten zu nutzen. Er könnte erzählen, dass die Ratten an ihren Essen sreserven nagen, wenn sie über Nacht das Fenster versehentlich offen lassen. Er könnte auch erzählen, dass er noch nicht einmal seine Miete beglichen hat und Hakim noch 150 Euro für die Hinfahrt schuldet. Aber er schweigt.
Auf dem Bildschirm sieht er seinen neugeborenen Enkel, das erste Mal. Erfan fließen Tränen über seine hohen Wangenknochen. Er hat Sehnsucht. Nach seinem Dorf. Nach dem Geruch der frischen Tomaten in seinem Garten. Nach seiner Frau. Erfan verabschiedet sich, zahlt zwei Euro für das kurze Familientreffen und geht zurück in seinen Keller.
Seyit Erfan sitzt regungslos auf seiner Matratze, zündet sich eine Zigarette an. Da kommt Hakim in den Kellerflur. Erfan bittet, ihn wieder mitzunehmen. Nach Hause, nach Sliwo Pole. »Bezahl erst mal deine Schulden.« Erfan nickt. »Ich bin doch kein bulgarischer Schutzengel«, sagt Hakim. Dann verlässt er den Keller. Bojan Hakim geht über den Hof und schließt die Metallpforte zu.
1 Name von der Redaktion geändert
Auf dem Arbeitsstrich – Von Detlef Vetten
Eine Lebens- und Schaffenskrise brachte ihn auf den Tagelöhnermarkt: Detlef Vetten, Jahrgang 1956, war Sportchef beim Stern , Lokalchef bei der Münchner Abendzeitung und arbeitet jetzt größtenteils als
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