Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
die Zeit, als Stoiber seine Nazisprüche gegen Ausländer losließ und von ›unzulässiger Durchrassung und Vermischung‹ quatschte.« Matthias grinst fröhlich. »Schade, dass ich ihn nicht getroffen habe.« Andere hätten glücklicherweise besser gezielt.
Aber es gab ein Polizeifoto, auf dem zu sehen gewesen sei, wie er ein Ei wurfbereit in der Hand hielt. Matthias wurde angeklagt und, wie er sagt, zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Die habe er absitzen müssen, weil er noch eine Bewährungsstrafe wegen eines früheren Drogendelikts offen hatte. »Es war die schönste Zeit meines Lebens, denn die Mitgefangenen, viele Ausländer dabei, haben mich groß gefeiert.«
Marco G., Anfang 40, ist der Schweigsamste in der Runde. Er gibt nur preis, dass er aus Berlin komme und seit zwei Jahren »alles hinter sich gelassen« habe. Er wirkt in sich gekehrt, verfolgt aber wohl, was wir miteinander reden. Schließlich sind wir alle müde, ich ziehe mir den Schlafsack bis übers Kinn, der Hund von Matthias knurrt und bellt. Ich streichle ihn noch mal, da leckt er meine Hand. Ich fühle mich irgendwie aufgehoben in dieser kleinen Gemeinschaft. Besonders die sehr persönlichen und auch politischen Bekenntnisse meiner Schlafgenossen haben mich berührt; ich hatte das nicht erwartet, so viel Reflexion und Bewusstheit. Aber ich habe auch Angst vor der Nacht, vor der Kälte. Ich denke an Geschichten von Menschen, die gar nicht merken, wie der Frost sie holt. Sie wachen einfach nicht mehr auf.
Und in meinen Schlafsack zieht die Kälte, als wäre er nur ein dünnes Leinentuch. Ein Leichentuch, denke ich und zittere. Wie ich erst später erfahre, bietet mein Schlafsack nach Herstellerangaben nur bis null Grad ausreichend Schutz. Ich versuche bibbernd, mich wach zu halten und meine eisigen Zehen zu bewegen, schlage mit den Beinen gegeneinander und mit den Armen an meinen Körper, um irgendwie die nach mir greifende Kälte zu vertreiben. Gegen 3 Uhr falle ich dann doch in den Schlaf und werde erst morgens gegen 7 Uhr steif und zitternd wieder wach. Aber ich habe Glück gehabt: Von einem schweren Schnupfen abgesehen, habe ich die Nacht bei minus 15 Grad und trotz der in den Morgenstunden vom Rhein hochziehenden feuchteisigen Luft unbeschadet überstanden.
Marco, der Schweigsame, das erfahre ich zwei Wochen später, ist nach weiteren Kältenächten eines Morgens plötzlich tot zusammengebrochen. Wahrscheinlich vor Entkräftung. Da den Behörden keine Angehörigen bekannt sind, wird ein Begräbnis in einem anonymen Armengrab angeordnet. Aber offenbar haben sich die Behörden auch keine sonderliche Mühe gemacht, Marcos Angehörige ausfindig zu machen. Es wäre so einfach gewesen. Wie alle, die ihn vom Café Gulliver kannten, weiß ich, dass er aus Berlin stammt. Die Telefonauskunft im Internet führt 31 Einträge unter Marcos Nachnamen auf.
Ich will sie der Reihe nach anrufen. Gleich bei der ersten Nummer meldet sich eine Frauenstimme. Ich frage, ob sie vielleicht einen Marco G. kennt.
»Warum?«, fragt sie zurück.
Ohne groß nachzudenken, erzähle ich, was vorgefallen ist: »Weil er vor Kurzem verstorben ist. Ich bin ein Kumpel von ihm und suche nach Angehörigen.«
Da höre ich, wie die Frau in heftiges Schluchzen ausbricht. Sie ist seine Mutter und hat ihren Sohn vor zwei Jahren das letzte Mal gesehen. Nach seinem Verschwinden hatte sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Erfolglos. Ich erfahre, dass Marco in Zockerkreise geraten war, hohe Spielschulden hatte. Um seine Familie, die ihm immer wieder Geld geliehen hatte, nicht weiter zu belasten, brach er schließlich alle Brücken hinter sich ab und wählte das anonyme Leben auf der Straße. Aber vielleicht ist alles viel komplizierter. Ich weiß es nicht. Jedenfalls bedankt sich sein Bruder bei mir. Er erreicht, dass Marcos Leiche, die wegen der Obduktion noch nicht beigesetzt war, nach Berlin überführt wird. Dort wird Marco im Familiengrab bestattet.
Ausgestoßen, weggeschlossen
Ich ziehe weiter nach Hannover, zu einem kolossalen Betonklotz in der Innenstadt. Die bunten Graffiti nehmen dem Kriegsrelikt ein wenig das Bedrohliche. Doch als ich die schwere Stahltür aufstoße, überkommt mich ein beklemmendes Gefühl. Der Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg ist fensterlos, die Luft stickig. Ein Aushang weist darauf hin, dass Rattengift ausgestreut wurde.
Die Notschlafstelle der Stadt Hannover ist letzte Zuflucht für Menschen, die fast alle Hoffnung verloren haben. Es ist ein
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