Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
wird nur geknechtet. Man darf nicht ins Zimmer nach der Arbeit, man ist genötigt, bis 20:45 Uhr im Aufenthaltsraum die Zeit totzuschlagen. Man darf sich nicht hinlegen, obwohl man hart gearbeitet hat. Das Geld wird einem abgenommen, das Konto aufgelöst. Man muss alle Beziehungen nach draußen, auch die familiären, kappen.«
Unser Mann ist empört. Er friert, aber er merkt es gar nicht. Er erzählt in einem fort und redet sich das Elend von der Seele. Ich staune über die anderen, über uns alle, die wir ihm zuhören, obwohl jeder von uns schon so viele Geschichten gehört hat: wahre, erdichtete, ausgeschmückte, zusammenfantasierte, dürre, auf Fakten beschränkte. Alles Mögliche.
Wir hören weiter zu: »Es ist unglaublich. Deshalb habe ich auch abgebrochen. Ich hab nämlich draußen eine Freundin, die hat kein Drogenproblem. Ich lass mir nicht mein soziales Umfeld zerstören. Die verlangten eine totale Kontaktsperre, obwohl meine Freundin, die eine feste Arbeitsstelle hat, der einzige wirkliche Halt in meinem Leben ist. Mir kam das Ganze vor wie eine Sekte, wie eine Gehirnwäsche. Ich hätte dort zwei Jahre bleiben sollen, danach wäre ich wahrscheinlich im Eimer gewesen, gebrochen. Deswegen habe ich den Entschluss gefasst, zu gehen. Aber das Geld haben sie behalten.«
In der Einrichtung würden viele nur aus Angst bleiben. Denn sie befürchteten, wieder ins Gefängnis gesteckt zu werden. Die Gerichte lassen nämlich verurteilte Drogenabhängige nur dann vorzeitig frei, wenn sie eine Therapie durchhalten. »Aber dort gibt es keine Therapeuten. Die sind nicht einmal auf meine Suchtproblematik eingegangen! Ich bin nur zum Arbeiten abkommandiert worden!«, empört er sich noch einmal.
An dieser Stelle mischt sich sein jüngerer Begleiter ein: »Ich habe wegen Beschaffungskriminalität zweimal zwei Jahre kassiert. Dann durfte ich raus, zur Bewährung, in diese sogenannte Suchthilfe. Ich habe es zwei Monate ausgehalten und keinen Tag länger. Jetzt droht mir zwar der Haftbefehl und dann muss ich die vier Jahre voll absitzen. Aber lieber das, als in Niederrad zum seelischen Krüppel gemacht zu werden!«
Ich habe mich später in Niederrad erkundigt. Die »Suchthilfe Fleckenbühl« (seit 2009 heißen sie »die Fleckenbühler«) betreibt auch das Haus in Frankfurt-Niederrad, in dem die beiden waren. Die »Fleckenbühler« arbeiten tatsächlich nach den geschilderten Prinzipien. Für viele mag das Konzept passen. Immerhin leben über 200 Menschen in den verschiedenen Einrichtungen des Projekts, fast die Hälfte des Budgets wird durch eigene Betriebe erwirtschaftet.
Jedem neuen Bewohner wird eine sechsmonatige Kontaktsperre auferlegt. Damit sollen Rückfälle verhindert werden. Der Entzug, ein sogenannter kalter Entzug, also ohne Ersatzdrogen, geschieht im Haus. Es gibt in dieser Einrichtung, die 1984 in einem kleinen Ort in der Nähe von Kassel gegründet wurde und dort noch heute einen Hof bewirtschaftet, keine Ärzte und keine Therapeuten »und auch niemanden, der behandelt werden muss. Denn wir glauben, dass jeder Mensch die Fähigkeit hat, sein Suchtproblem selbst in den Griff zu bekommen – unsere Gemeinschaft hilft dabei.« Das ist der konzeptionelle Grundsatz der Selbsthilfegruppe. Problematisch, das geben auch die Macher zu, wird es allerdings, wenn Menschen gezwungenermaßen in die Einrichtung kommen – weil sie vom Gericht geschickt werden oder dem Gefängnis entkommen wollen. Viele von ihnen halten das Programm nicht durch, verlassen bald wieder die Einrichtung, »scheitern«, weil sie das Gefühl haben, sie kommen von einem Zwang in den anderen.
Bei den »Fleckenbühlern« dürfen kein Alkohol, keine Drogen und kein Tabak konsumiert werden. Und »in Gesprächskreisen – den sogenannten Spielen – werden Probleme, die ein Einzelner mit sich selbst oder anderen hat, diskutiert und gelöst«. So steht es in den Statuten. Doch die eigentliche Therapie, wenn man so will, besteht im regelmäßigen Arbeiten, angefangen mit Hilfstätigkeiten wie dem sinnlosen Putzen, auch wenn alles längst sauber ist, dann weiter mit den »besseren« Jobs in den eigenen Betrieben oder in der eigenen Landwirtschaft.
Aber unsere beiden Mitbewohner haben sich nur noch unter Druck gesetzt gefühlt, geradezu verfolgt von einem Kollektiv, das ihnen fremd war, dessen Regeln nicht die ihren waren, dessen Ziele sie nicht verstanden und nicht geteilt haben. Aber weil die Kriminalisierung von Drogen, von Drogengebrauch und von
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