Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
Freitag im Februar, kurz vor 23 Uhr, die letzte Möglichkeit, eingelassen zu werden. Ruppig notiert der Bunkerwart meine Personalien und weist mir einen Schlafplatz zu. Irgendwo dahinten im Dunkeln. Ich kann mich nicht recht orientieren, es ist finster. Die Schlafräume, die links und rechts des Gangs abgehen, haben keine Türen; Stoffvorhänge sollen so etwas wie Privatsphäre schaffen. Die sanitären Anlagen stammen noch aus Kriegszeiten. Die Toilettentüren sind nicht verschließbar und nur halbhoch, jeder kann hineinsehen. Vier eiserne Bettgestelle warten in »meinem« Raum auf mich, mit stark verschmutzten Matratzen. Ich suche mir eines der »Betten« aus, lege meine Sachen ab, drehe vorsichtshalber die Matratze herum, um zu sehen, ob da auch keine Tierchen krabbeln, ziehe die Schuhe aus, schalte das Licht aus und krieche in voller Montur in meinen Schlafsack. Es ist Mitternacht. Kaum bin ich eingeschlafen, dröhnt aus dem Schlafraum gegenüber laute Musik. Nach einer Viertelstunde pelle ich mich aus meinem Schlafsack. Ich trete auf den Gang, räuspere mich vor dem Vorhang meines Nachbarn. Als ich eine belegte Stimme sagen höre: »Was willste?«, schiebe ich den Vorhang zur Seite. Mein Nachbar ist allein im Raum. Der Mann von kräftiger Statur, vielleicht Ende 30, sitzt angezogen an einem Tisch und hat ein Messer neben sich liegen.
»Entschuldige bitte«, sage ich betont freundlich, »kannst du vielleicht dein Radio ein bisschen leiser stellen? Ich bin direkt gegenüber und kann nicht schlafen.« Er schaut mich herausfordernd an: »Sieh mal an, du kannst nicht schlafen!«
»So ist es«, sage ich. »Du kannst ja weiter deine Musik hören. Nur ein bisschen leiser bitte. Schaffst du das?«
»Schaff ich«, antwortet er, »aber nicht für dich.«
»Das weiß ich zu schätzen«, ignoriere ich seinen Affront, wünsche ihm gute Nacht und verkrieche mich wieder in meinen Schlafsack.
Die Musik plärrt weiter und ich höre, wie er sich, immer lauter vor sich hin monologisierend, in Gewaltfantasien hineinsteigert: »Schieß dir in die Schädeldecke! Ich hab die Schnauze voll! Dem hab ich so ins Maul getreten … Das ist nicht Einschüchterung, nur Überzeugungstechnik. Warum bin ich so zerrissen?«
Irgendwann merke ich, dass er seine verbalen Gewaltausbrüche immer deutlicher an mich richtet: »Kann nicht schlafen«, äfft er mich nach. »Einen in die Schnauze hauen, dann kann er schlafen. Ich hätte den am liebsten rausgeballert wie eine Rakete. Das ist dein Problem, wenn du nicht pennen kannst, nicht meins. Ich mach dir Löcher in den Leib. Erschießen! Erstechen am besten! Ich geh mal zu dem Penner rüber.«
Eigentlich bin ich kein ängstlicher Mensch, aber mein Gefühl als Angst zu beschreiben wäre untertrieben. In mir kommt Panik auf, die mich völlig lähmt. Wie banal, denke ich, dass es dich ausgerechnet hier erwischt. Es ist wohl die blitzartige Erinnerung an überstandene Gefahren, die mich endlich aus der Erstarrung löst. Ich stehe auf, nehme meine Schuhe in die Hand, raffe den Schlafsack unter den Arm und schleiche auf Zehenspitzen an dem Vorhang meines bedrohlichen Nachbarn vorbei. Nichts wie raus, und wenn es draußen minus 20 Grad sein sollten! Ich stehe vor der Eingangstür aus Stahl und will sie aufziehen. Nichts. Ich rüttle daran, immer heftiger. Nichts. Die Tür ist verschlossen, ich erkenne ein dickes Vorhängeschloss. Bombensicher. Auch die Tür zur Pforte des Bunkerwarts ist abgeschlossen. Auf mein Klopfen öffnet keiner. Ich eile den Gang, der an den Schlafräumen vorbeiführt, entlang und versuche, in einem anderen Raum unterzukommen. Aus dem Dusteren höre ich eine ärgerliche Stimme: »Alles besetzt!« Schließlich finde ich eine Ecke hinter einem Vorhang, wo ich mich hinkauere.
Mir ist, als ob die Luft immer stickiger würde. Wenn hier ein Schwelbrand ausbricht! Es reicht, wenn eine Matratze durch eine Zigarette in Brand gerät. Alle wären gefangen und würden an Rauchvergiftung krepieren. Bis um 4 Uhr halte ich mich wach und bei jedem Geräusch auf dem Gang schrecke ich hoch. Aber mein Nachbar hat die Suche nach mir offenbar aufgegeben. Ich nicke ein.
Als ich am nächsten Morgen dem Bunkerwart sage, dass ich mich bedroht gefühlt hätte, und ihn frage, warum die Eingangstür verschlossen gewesen sei, rechtfertigt er sich: »Wenn wir nicht abschließen, kann’s sein, dass morgens dein Zeug weg ist.« – »Aber das muss doch auch anders gehen«, sage ich, immer noch ziemlich
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