Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
Engagementpreis« und zuvor schon für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Er wäre der erste Obdachlose, der diese Auszeichnung erhalten würde.
Kalte Angst
Im neuen Jahr kehre ich nach Köln zurück und verbringe dort meine zweite Nacht im Freien. Es ist der 6. Januar 2009. Die Stadt ist schneebedeckt, völlig unüblich für das Rheinland, die Seen locken mit einer dicken Eisschicht zum Schlittschuhlaufen. Die kälteste Nacht dieses Winters, bis zu minus 15 Grad, ist angekündigt. Meldungen, es seien bereits Menschen auf der Straße erfroren, schockieren mich jetzt auf ganz andere Weise. Köln, so höre ich, will es anderen Städten gleichtun und Leute, die im Freien übernachten, einsammeln und in Wärmenotquartieren unterbringen.
Draußen ist von dieser Samariteraktion nichts zu spüren. Gegen 23 Uhr zähle ich allein in Bahnhofs- und Domnähe über ein Dutzend Menschen, die sich unter Decken oder in Schlafsäcken der extremen Kälte aussetzen. Zu mir kommt in dieser Nacht jedenfalls niemand, der mich in eine Notunterkunft bringen will.
Dabei schlage ich mein Schlafquartier an zentraler Stelle auf, vor dem Obdachlosencafé Gulliver hinter dem Hauptbahnhof, ganz in Rheinnähe. Hier haben fünf Berber schon seit Monaten Quartier bezogen. Sie kennen sich und leben hier wie eine Großfamilie. Der Älteste, Thomas, ist 61 und lässt mich gewähren, als ich mein Gelumpe zu einem Lager auszubreiten beginne. »Aber nur für eine Nacht«, stellt er klar, »wir sind hier nur geduldet. Es dürfen nicht mehr werden.« Seine kräftige Nase gibt ihm einen entschiedenen Ausdruck, sein bis auf die Schultern wallendes weißblondes Haar umrahmt sein Gesicht würdevoll. Aber die Augen! Rot gerändert, matt. Thomas ist gesundheitlich angeschlagen, sein ständiges Husten geht in ein Röcheln über. Er ist seit Oktober hier, nachdem er in der Annostraße, wo er ab und zu mal übernachtet hat, ausgeraubt wurde. Seitdem sieht er die Kälte als das kleinere Übel an. »Alles, was ich mir nach und nach angeschafft hatte und mit meinem Fahrradanhänger hinter mir herzog, war weg.«
Thomas ist gelernter Maler und Putzer, seit 26 Jahren lebt er auf der Straße. Er gehört zur aussterbenden Gattung der echten Vagabunden. Die Hände sind kräftig, geschmückt mit vielen Ringen, eine Uhr am tätowierten Handgelenk. »Warum hast du deine Arbeit verloren?«, frage ich.
»Ich hab sie nicht verloren, ich habe selbst hingeschmissen. Ich bin Aussteiger«, betont er nicht ohne Stolz. Er hat auf Baustellen in Frankfurt malocht, nicht schlecht verdient. »Aber das Arbeitsklima, der Druck, der Stress und das Tempo haben mir nicht gefallen. Da hab ich gesagt: Feierabend! Ohne mich.« Er hustet heftig und anhaltend. »Ich habe die Welt kennengelernt – bis zur Südspitze Italiens.« Er bereut, wie er sagt, seinen Ausstieg nicht.
Thomas weist mir einen Schlafplatz neben seinem »Stiefsohn« Matthias zu, der, an seinen Hund gekuschelt, an der Wand liegt. Matthias ist 30, hat rote Strähnen und ein paar geflochtene Zöpfe im Haar. »Ich nenne Thomas meinen Vater, weil ich mit ihm wahlverwandt bin und viel von ihm lernen kann.« Matthias ist seit über zehn Jahren in ganz Deutschland unterwegs. Ursprünglich kommt er aus München, wo er in Heimen aufwuchs. Zwei Lehren hat er als Schreiner und Verkäufer angefangen und wieder hingeschmissen. Auch er zieht die Straße den Notunterkünften vor. Selbstbewusst erzählt er, in einen dicken bunten Pullover und eine schwarze Weste gehüllt, das freundliche Gesicht mir zugewandt.
Er lacht: »Hier draußen gibt’s keine Käsefüße. Du hast etwas mehr Zufriedenheit und Ordnung. Auf einem kleinen Fleck kann man gemütlich mit den Leuten leben, zu denen man gehört.« Zwischendurch jobbt Matthias als Tagelöhner auf dem Bau, auf einem Ökobauernhof und als Schausteller. »Ich bin als Berber groß geworden, in München habe ich mit Mooshammers Vater unter der Donaubrücke gepennt. Das war noch ein Mensch.« (Richard Moshammer nahm sich als Obdachloser das Leben. Sein Sohn Rudolph, ein Münchener Original aus der Modebranche, wurde Anfang 2005 ermordet.)
Die Nacht wird kälter, wir liegen in unseren Schlafsäcken, der Hund zwischen uns, und Matthias erzählt mir von einem »Höhepunkt seines Lebens«, auf den er »besonders stolz« sei. Das sei in München gewesen. Da habe er mit einer Gruppe Jugendlicher Edmund Stoiber, den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten (CSU), mit Eiern beschmissen. »Das war
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