Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Redline Wirtschaft
Vom Netzwerk:
dauerte noch lange, aber im Januar 2011 endlich wurde der Bunker endgültig als Schlafstätte für Obdachlose geschlossen und eine neue, bessere Unterkunft mit Zwei-Bett-Zimmern eröffnet. Ein Lichtblick und ein Zeichen dafür, dass sich stetiger Protest und öffentliche Kritik lohnen.
    Katholische Fürsorge
    »Penner«, Verrückte, Trinker und andere auffällige und merkwürdige Gestalten weit weg zu verbannen – das war schon immer eine Methode, um den braven und angepassten Gesellschaftsmitgliedern den Anblick von »arbeitsscheuem Gesindel« zu ersparen. In der Stadt, aber auch auf dem Land. In der Nazizeit wurden Wohnungslose als »Asoziale« registriert, in der Aktion »Arbeitsscheu« in Konzentrationslager gesperrt und dort mit besonderer Brutalität gequält. Viele der Opfer, die einen braunen oder schwarzen Winkel an der Häftlingskleidung tragen mussten, überlebten die Torturen nicht. Nach der Befreiung wurde den Überlebenden in der Bundesrepublik und meist auch in der DDR jegliche Entschädigung verweigert. Das Stigma »asozial« überdauerte die Hitlerzeit.
    Sieben Kilometer von Weeze entfernt, einer sauberen Kleinstadt am Niederrhein, nahe dem Wallfahrtsort Kevelaer, liegt das Petrusheim. Vor 100 Jahren wurde diese »katholische Arbeiterkolonie« erbaut. Beide Kirchen errichteten um die Wende zum 20. Jahrhundert Dutzende solcher Einrichtungen, um »Landstreicher« und »Wanderbettler« wieder ans Arbeiten zu gewöhnen und der herrschenden Arbeitsdisziplin zu unterwerfen. Die Mittel waren häufig drakonisch: Arbeitszwang zu Niedrigstlöhnen, eine autoritäre Heimleitung, Prügel.
    Das Petrusheim ist auch heute noch eine »Kolonie«, ein Wohn- und Arbeitsort für etwa 200 Insassen. Die Hälfte von ihnen lebt im dortigen Altenheim. Die anderen in den Wohnungen der eigentlichen Arbeiterkolonie. Dann gibt es noch eine dritte Gruppe mit denjenigen, die zum Arbeiten nicht mehr in der Lage sind und für das Altersheim noch zu jung, den »Behinderten«.
    Vom Petrusheim hatten mir einige meiner obdachlosen Freunde erzählt. Die städtischen Behörden aus ganz Nordrhein-Westfalen weisen dort ihre »Klienten« ein. Man kann aber auch aus freien Stücken dort unterkommen, für einige Tage oder länger. Man kann sogar für immer dort bleiben, auf dem heimeigenen Friedhof, der neben den Wohn-, Arbeits- und Verwaltungsgebäuden, der Kirche, den Stallungen für das Vieh und die landwirtschaftlichen Geräte und der hauseigenen Schlachterei zum Areal gehört.
    Ich bin mehrmals im Petrusheim gewesen. Man braucht ziemlich lange zu Fuß, die Straße zwischen Weeze und dem Heim zieht sich, hin und wieder zischt ein Auto an mir vorbei. Irgendwann taucht rechter Hand der Eingang auf. Ein von Büschen gesäumter Weg führt auf die »Hauptstraße«, an deren Ende ich die von hohen Bäumen gesäumte Kirche sehe. Dann geht es rechts ab in einen Innenhof, der von den zahlreichen Gebäuden gebildet wird, wie ein riesiger Gutshof. Die Häuser selbst und der Innenhof mit Blumen, Bäumen und Bänken machen einen gepflegten Eindruck. Das Ganze wirkt wie ein kleines Dorf auf mich, abgeschieden von allem sonstigen Leben, zwischen Wiesen und den mit Mais, Getreide oder Kartoffeln bestellten Feldern. 240 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche gehören zum Petrusheim.
    Die Sonne scheint, es ist später Vormittag, ich sehe ein paar Leute, einige rauchen, manche haben Bierflaschen in der Hand. Etliche Bänke sind besetzt. Das Petrusheim ist eine »nasse« Einrichtung, man darf trinken, es sollte nicht zu viel sein. Was ist »zu viel«? Im Keller gibt es eine Art Kiosk mit mehr oder weniger regelmäßigen Öffnungszeiten. Kein schöner Anblick da unten, es riecht muffig, ein Verwaltungsangestellter verkauft Alkohol, Zigaretten und dies und das. Nicht gerade glücklich schaut er drein, die Schlange vor dem Tresen wird nur langsam kürzer. Einer der Kunden hat angeblich schon zu viel angeschrieben, er kriegt nichts und hat Tränen in den Augen. »Seitdem ich hier jenseits von Gut und Böse bin«, kommentiert ein anderer die Szene, »hab ich keinerlei Freiheit mehr. Hier muss man fast die ganze Rente abgeben, kriegt 94 Euro im Monat Taschengeld. Das ist hier die Vorstufe zur Urne.«
    Timo (eine Begegnung im Petrusheim)
    Er ist 23, der Jüngste hier. Er ist in sich gekehrt und spricht kein Wort, hört aber aufmerksam zu, wenn die Älteren ihre Erinnerungen austauschen. Seit einem halben Jahr ist er im Petrusheim, nachdem er zuvor zwei Jahre mehr

Weitere Kostenlose Bücher