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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Redline Wirtschaft
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Hauptwache fährt. Da wir zu Fuß und somit deckenfrei gekommen waren, beschlossen wir, in unsere Zeltunterkunft im Demo-Camp zurückzukehren. Draußen fiel inzwischen Schnee. Klirrende Kälte. In der Hoffnung, dass das Camp nicht ausgerechnet in dieser Nacht geräumt werden würde, packten wir uns dick in die geliehenen Schlafsäcke und schliefen sofort ein.
    So viele Vorzüge das Leben als Landstreicher auch hat, lange schlafen gehört eindeutig nicht dazu. Überall, wo man nachts in Großstätten in Ruhe schlafen kann, wird diese Ruhe mit dem Erwachen der Stadt gestört. Die U-Bahn-Station »Hauptwache« eröffnet ihren Betrieb um 6 Uhr morgens und dann ist die Nacht im Matratzenlager vorbei. Auch die Notunterkünfte, in denen wir zuvor in Nürnberg geschlafen hatten, wollten ihre Gäste bereits in den frühen Morgenstunden wieder loswerden. Das hatte uns als alte Nachteulen, die ständig bis weit nach Mitternacht auf der Suche nach neuen Erkenntnissen, Nahrungsquellen und Interviewpartnern waren, auf Dauer eine Menge Schlaf gekostet. Für Demonstranten, auch wenn es landstreichende sind, sieht das anders aus. So konnten wir am folgenden Tag bis um 9:15 Uhr liegen bleiben.
    Der Morgen zeigte uns jedoch als Erstes, dass nach vier Monaten der Finanzviertelbesetzung nicht viel mehr als gute Ideale, Hartnäckigkeit, gemeinsames Feiern, Trinken und Kiffen sowie ein alternatives Lebensgefühl von der Occupy-Bewegung übrig geblieben waren. Bei Tageslicht sah die Zeltstadt eher heruntergekommen aus, auch wenn noch deutlich zu erkennen war, dass sie einmal stattlich und eindrucksvoll gewesen sein musste. Die großen Aktionen, die uns am Vortag angekündigt worden waren, fanden nicht statt. Die meisten der Schlafzelte standen leer.
    »Ich warte ehrlich gesagt nur noch darauf, dass mir die Stadt ein Gehalt als Fremdenführer überweist, da so viele Leute nur nach Frankfurt kommen, um die Occupy-Bewegung zu sehen«, sagte uns Mark mit sarkastischem Unterton. Wir hatten ihn als einen der Hauptinitiativträger kennengelernt und um weitere Hintergrundinfos gebeten. Auf unsere Frage, ob es bereits Versuche gab, das Camp aufzulösen antwortete er: »Kein einziges Mal! Wieso auch? Sie haben uns sogar einen Wasseranschluss gelegt.« Die Stadt hatte das Camp also bereits als Touristenattraktion akzeptiert.
    Wir trafen vor unserem Zelt einen jungen Demonstranten. Er begrüßte uns freudig und stellte sich als politisch aktiver Schizophrene vor. In einer beeindruckenden Geschwindigkeit inszenierte er einen ebenso unterhaltsamen wie sinnfreien politischen Sprachfasching aus Wortneuschöpfungen, Metaphern, Anglizismen, geflügelten Worten und waghalsigen Vergleichen, bei dem sich jeder andere die Zunge gebrochen und die Zähne ausgeschlagen hätte. Damit war er bereits der Dritte, den wir auf unserer Tour getroffen haben, der absolut klar und intelligent war, aber um jeden Preis als verrückt wahrgenommen werden wollte.
    Von einigen seiner Kameraden erhielten wir jedoch noch einige Hinweise, die uns bei unserer Unternehmung sehr viel weiterbringen sollten. Im Bahnhofsviertel sollte es mehrere Drückerstuben geben. Das sind kleine Lokale oder Einrichtungen für Heroinabhängige, in denen sie saubere Spritzen bekommen. So können sie ihrem Drogenkonsum zumindest ohne das Risiko von AIDS, Hepatitis und Bakterieninfektionen nachgehen. Hatten wir in Nürnberg noch beschlossen, dass wir uns von Heroinabhängigen fernhalten würden, so waren wir jetzt doch wieder neugierig. Uns war zwar noch immer klar, dass wir von dieser Klientel lieber die Finger lassen wollten. Denn das Risiko, dass plötzlich jemand austickt, ist für uns nicht kalkulierbar. Dennoch stieg unser Interesse mit jeder Minute.
    Jetzt mussten wir uns jedoch erst mal auf die Jagd nach einem Frühstück machen. Unsere Gastgeber im Camp berichteten uns von einer Frühstückstafel im »Franziskustreff« der Frauenkirche und von einer Winterspeisung in einer anderen Kirche. Dort könne man als Obdachloser ein gutes Mittagessen ergattern. Als wir am Franziskustreff ankamen, war das Frühstück bereits vorbei. Wieder einmal zeigte sich, dass das Obdachlosenleben ein Frühaufsteherleben ist. Unser Ausflug war dennoch nicht vergebens, denn vor dem Eingang trafen wir einen schüchtern wirkenden, freundlichen Herrn mittleren Alters. Trotz seiner abgetragenen Kleidung sah er auffällig gepflegt aus. Er hatte einen stoppeligen Bart, ergraute, gut gekämmte Haare und unterhielt sich mit

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