Draußen wartet die Welt
Offensichtlich hatte Rachel beim letzten Mal nach dem Schreiben vergessen, den Computer auszuschalten. Rachel hatte mir gezeigt, wie man Dokumente speichern konnte, und ich führte den Mauszeiger an die entsprechende Stelle. Doch dann fiel mir das Wort Amisch ins Auge. Ich begann zu lesen. Während des Rumspringa ist bei den amischen Jugendlichen, die zuvor keinerlei Berührung mit der Popkultur und aktuellen Trends hatten, durchaus unverantwortliches Verhalten zu beobachten, wenn sie den Freiheiten und potenziellen Gefahren eines normalen amerikanischen Teenagerlebens ausgesetzt sind. Nicht selten sind diese auch mit Alkohol und Sex zu assoziieren.
Mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkorb. Ich drückte auf den nach unten zeigenden Pfeil auf der Tastatur. Weitere Worte wanderten auf den Bildschirm. Während dieser Zeit sind diese indoktrinierten Jugendlichen sehr verwundbar, da sie über keinerlei Erfahrung mit dieser neu gewonnenen Freiheit verfügen. Ich las weiter und erkannte in den Worten meine eigene Unbeholfenheit bei dem Versuch wieder, mich in dieser neuen Welt zurechtzufinden: mein mangelndes Urteilsvermögen während des Balls und meine Bemühungen, genauso zu sein wie die englischen Teenager.
Hitze breitete sich in meiner Brust und meinen Armen aus. Das war es also, was Rachel bei all ihren Ausflügen in die Bibliothek und während all der Stunden tat, die sie am Computer verbrachte. Sie schrieb einen Bericht über mich. Ich hatte mich hier so willkommen gefühlt, als gehöre ich in dieses Zuhause. Aber jetzt kannte ich die Wahrheit. Ich war nur ein Studienobjekt. Rachel wollte gar kein Kindermädchen – sie wollte ein wissenschaftliches Experiment. Ich war ihr kleines amisches Mädchen, das sie in die moderne Welt verpflanzt hatte, um zu sehen, ob ich dort wachsen würde. Und während ich mich stolpernd in dieser neuen Welt zurechtfand, hatte Rachel meine Wunderlichkeit mithilfe der Tastatur festgehalten und all meine Fehler in winzigen Ordnern auf diesem Computer gesammelt.
In meinem Kopf fügten sich die einzelnen Puzzleteile langsam zusammen. Rachels umfangreiches Wissen über die Amisch. Die Hektik, mit der sie ihre Bücher versteckt hatte, als ich in der Pension in ihr Zimmer gekommen war. Und ihre vagen Antworten, wenn ich sie hin und wieder nach ihrem Studium gefragt hatte. Ich schob den Stuhl vom Computertisch weg und stand auf. Es fiel mir schwer zu atmen. In dieser Welt gab es nichts als Lügen. Ich musste hier weg.
Ich rannte die Treppe hinauf in das Zimmer, das meines gewesen war, und mein Blick fiel auf den amischen Quilt, den ich an meinem ersten Tag hier als so tröstlich empfunden hatte. Ich riss wie wild an den Knöpfen meiner Bluse, und mir kam der Gedanke, dass sich ein Häkchen viel leichter öffnen ließ. Ich wollte nur noch raus aus diesen englischen Kleidern, für die ich mit meinem eigenen Geld bezahlt hatte, die mir aber gar nicht wirklich gehörten.
Ich ließ die Bluse und die Jeans auf einen Haufen auf den Boden fallen und griff nach meinen amischen Kleidern, die noch immer dort hingen, wo ich sie in der vergangenen Woche hingehängt hatte. Ein paar Minuten später trug ich das Kleid, die Schürze und die Kapp, und ich musste nicht in den Spiegel schauen, um mein Spiegelbild zu sehen. Ich wusste, dass ich aussah wie ich selbst.
Ich fasste ganz tief in den Schrank, holte die Reisetasche heraus und stellte sie auf mein Bett. Ich schob die Kleiderbügel einen nach dem anderen an der Kleiderstange zur Seite und sah zu, wie meine englische Garderobe an mir vorbeizog. Die Jeans, die Kakihose, die Blusen mit Knopfleiste, das zerknitterte blaue Kleid, das ich nach dem Ball nicht gewaschen hatte. Ich wollte nichts von alldem. Ich riss die Schubladen der Kommode auf und wühlte durch die TShirts, Pullover und Sweatshirts, holte aber nur ein einziges Teil heraus – das Band-T-Shirt, das Josh mir vor unserem ersten Konzert geschenkt hatte. Ich legte das T-Shirt zusammen mit einem Schlafanzug, Unterwäsche und Socken in meine Reisetasche. Dann ging ich zum Schreibtisch und nahm das Tagebuch mit den Seiten meiner Mutter an mich, die noch immer in dem verborgenen Fach steckten. Ich griff nach all den Briefen, die meine Freunde und meine Familie mir geschrieben hatten und die ich fein säuberlich gefaltet und mit einem Gummiband zusammengebunden hatte. Vorsichtig packte ich sie ebenfalls in die Reisetasche. Anschließend fügte ich das Bild vom Abend des Balls und Daniels
Weitere Kostenlose Bücher