DREAM - Ich weiß, was du letzte Nacht geträumt hast (German Edition)
berühren, es aber nicht konnte.
Nichts zu verlieren
24. März 2006, 15:00 Uhr
Janie ist wie in Trance. Fast drei Wochen sind jetzt vergangen. Wie ein Zombie sitzt sie im Unterricht und geht danach allein nach Hause. Jeden Tag.
Allein.
Es ist schwer. Es gibt jetzt so viel mehr zu vermissen. Allein zu sein war vor Carl leichter als jetzt.
Im Lesesaal sitzt er auch nicht mehr in ihrer Nähe. Er ruft nicht an. Er sieht nicht mehr nach ihr, wenn sie in einen Traum gesogen wird.
Scheinbar kann er sie nicht einmal mehr anschauen. Und wenn es zufällig doch geschieht – auf den Gängen oder dem Parkplatz –, dann hat er plötzlich einen gequälten Gesichtsausdruck und geht wortlos weiter.
Weg von ihr.
Selbst bei der Nachbesprechung mit Captain war sie allein. Carl hat sich ohne sie mit Captain getroffen.
Janie fährt mit offenem Fenster nach Hause, um die frische Frühlingsluft zu spüren. Sie hat nichts mehr zu verlieren.
15:04 Uhr
Sie hält hinter einem Grundschulbus, dessen Rücklichter blinken, und schaut den Kindern zu, die vor ihr die Straße überqueren. Sie fragt sich, ob darunter Kinder sind, die so sind wie sie.
Wahrscheinlich nicht.
Doch plötzlich …
Es überrascht sie. Blind wird sie in den Traum eines kleinen Kindes gesogen.
Sie fällt und fällt von einem Berg.
Ihr Fuß rutscht vom Bremspedal.
Die Hupe des Busses heult laut auf.
Panisch umklammert sie das Lenkrad und bemüht sich, sich zu konzentrieren und aus dem Traum zu lösen, während Ethel den Kindern auf der Straße gefährlich nahe kommt.
Janie tritt mit dem tauben, schweren Fuß auf die Bremse und greift blind nach dem Zündschlüssel.
Ethels Motor erstirbt, bevor Janies Sehvermögen zurückkehrt.
Der Busfahrer wirft ihr einen wütenden Blick zu.
Die Kinder rennen an den Straßenrand und sehen Janie mit angsterfüllten Augen an.
Janie schüttelt entsetzt den Kopf, um ihn klarzubekommen. »Es tut mir so leid«, stößt sie hervor. Sie fühlt sich hundeelend.
Der Bus dröhnt davon.
Während die Fahrer hinter ihr ungeduldig zu hupen beginnen, versucht Janie, Ethel wieder anzulassen.
Sie weint heftig.
Und hasst ihr Leben.
Sie fragt sich, was zum Teufel aus ihr werden soll, fragt sich, wie sie durchs Leben kommen soll, ohne jemanden umzubringen.
Sie schafft es nach Hause, wischt sich mit dem Ärmel über das Gesicht und geht entschlossen ins Haus, direkt in ihr Zimmer und wirft ihren Mantel und den Rucksack aufs Sofa..
Sie geht zu ihrem Schrank.
Holt den Karton heraus und setzt sich auf das Bett. Sie kippt alles auf einen Haufen und nimmt das grüne Notizbuch. Ohne zu zögern, schlägt sie es auf und liest noch einmal die Widmung.
Eine Reise ans Licht
von Martha Stubin
Dieses Tagebuch ist den Traumfängern gewidmet. Es ist ausdrücklich für jene geschrieben, die meinen Spuren folgen werden, wenn ich nicht mehr bin.
Die Informationen, die ich weitergeben will, haben zwei Bestandteile: Freude und Furcht. Wenn du nicht wissen willst, was auf dich zukommen wird, dann schließe dieses Tagebuch jetzt bitte. Blättere nicht um.
Aber wenn du genug Mut hast und den Wunsch, gegen das Schlimmste anzukämpfen, dann solltest du es lieber wissen. Allerdings kann es dich dein ganzes Leben lang verfolgen. Bitte überlege es dir gut. Vielleicht enthält das, was du lesen wirst, doch mehr Furcht als Freude.
Es tut mir leid, dass ich dir diese Entscheidung nicht abnehmen kann. Das kann niemand. Du musst sie allein treffen. Bitte bürde diese Verantwortung nicht anderen auf. Es würde sie zerstören.
Wie auch immer du dich entscheidest, es wird eine lange, schwere Reise. Triff die Entscheidung ohne Bedauern. Denk darüber nach. Hab Vertrauen in deine Entscheidung, wie sie auch ausfallen mag.
Viel Glück, mein Freund
Martha Stubin, Traumfängerin
Janie ignoriert die aufsteigende Angst und blättert die Seite um. Und dann die leere Seite.
Du hast die erste Seite nun gelesen, zumindest ein Mal. Ich kann mir vorstellen, dass du eine Weile darüber nachgedacht hast, vielleicht tagelang, um dich zu entscheiden, ob du weiterlesen möchtest. Und jetzt bist du hier.
Falls du Herzklopfen hast, lass mich dir sagen, dass ich mit der »Freude« anfangen werde. Dann kannst du deine Meinung noch ändern, wenn du nicht weitermachen möchtest. In diesem Heft lasse ich eine Seite frei, bevor du zu den Informationen mit der Überschrift »Furcht«kommst. Dann weißt du Bescheid und musst beim Umblättern keine Angst
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