Dreamboys 01 - Tigerjunge
ihn machen, wenn die alte Tigerin mich noch einmal »abholen« würde? Parvati war nicht mehr so scheu wie ein fremder Tiger. Sie kannte mich schon! Und ein Nylonzelt bot wirklich keinen Schutz. Dann schüttelte ich meine Furcht ab. Ich war von Natur aus ein Optimist. Es würde schon alles gutgehen!
Sanjay kam und kochte für mich, eifrig wie immer. Ich unterhielt mich ein bisschen mit ihm, aber er sprach wenig Englisch und konnte auch nicht zwei Dinge gleichzeitig machen; entweder er kochte – oder er redete.
Nachdem er gegangen war, kam ich mir ziemlich verloren vor. Ich hatte eine richtig schmerzende Sehnsucht nach Alain. So schnell gewöhnte ich mich also an meinen geliebten Freund, dass ich gar nicht mehr allein sein wollte. Bis zum Sonnenuntergang saß ich noch mit nacktem Oberkörper vor meinem Zelt und las. Wieder war es sehr heiß. Als ich gerade überlegte, was ich wohl nach Einbruch der Dunkelheit mit mir anfangen sollte, erschien er – Tarun!
Ich hielt unwillkürlich den Atem an, als er im letzten Dämmerschein aus dem Gebüsch auf den Vorplatz trat, scheu und vorsichtig. Der aufrechte Gang war offensichtlich kein Problem für ihn. Mit einem kleinen, geschickten Schwung warf er sein langes Haar zurück. Natürlich war er immer noch nackt. Seine Haut schimmerte wie Karamell. Dieses Mal hatte er keine vollständige Erektion, doch sein Glied war auf halbem Wege dazu. Er schien sehr leicht erregbar zu sein.
»Hallo!«, sagte ich in einem sanften Tonfall.
Er stand still und sah mich aus seinen großen, dunklen Augen an. Ich schätzte seine Größe auf nicht mehr als einen Meter siebzig, eher weniger.
Langsam, um ihn nicht zu verscheuchen, machte ich mit meiner Hand eine einladende Bewegung. »Komm her!«, sagte ich leise.
So wie neulich vor der Höhle schien er meine Gesten zu verstehen. Zögernd kam er tatsächlich näher. Auf dem kleinen Tisch vor meinem Zelt stand noch ein Rest von Sanjays gebratenem Huhn, den ich zum Abendbrot essen wollte. Ich nahm den Blechteller und hielt ihm das Fleisch entgegen. Er kam bis zum Tisch, senkte das Gesicht über den Teller und schnüffelte daran. Ich musste unwillkürlich lächeln. Er schaute mich an und rümpfte seine niedliche, kurze Nase. Er guckte dabei so treuherzig, dass ich richtig lachen musste. Da lachte er auch. Das war der Beginn eines neuen Abschnitts in meinem Leben – und in seinem.
Sein Lachen war betörend und bezaubernd. Ich hatte ihm gar nicht zugetraut, dass er überhaupt lachen konnte. Er hatte schöne, gleichmäßige, große Zähne, die total gesund wirkten, obwohl er bestimmt noch nie eine Zahnbürste benutzt hatte.
Ich versuchte es mit einer Dose Mangosaft, die ebenfalls auf dem Tisch stand. Ich öffnete die Dose und gab sie ihm. Er roch an der Öffnung. Das schien ihm zu gefallen. Er setzte die Dose an den Mund und trank, als ob er schon immer aus Dosen getrunken hätte. Mir wurde klar, dass er uns wahrscheinlich schon oft beobachtet hatte, und wir instinktarmen Zivilisationsmenschen hatten ihn nicht bemerkt. Er trank die Dose vollständig leer und leckte sich über die schönen Lippen. Ordentlich stelle er die leere Büchse auf den Tisch und sah mich erwartungsvoll an.
Ich zeigte auf mich und sagte: »Niklas!« Dann deutete ich auf ihn und sprach seinen neuen Namen aus: »Tarun!«
Er starrte angestrengt vor sich hin und bewegte die Lippen, brachte aber kein Wort heraus. Ich wiederholte die beiden Namen, sehr langsam. Er versuchte, sie nachzusprechen. Auf einmal drang ein Wort aus seiner Kehle, wahrscheinlich sein erstes überhaupt: »Nikla!« Seine Stimme klang etwas tiefer, als ich vermutet hatte, und leicht heiser.
Ich nickte ihm aufmunternd zu und wiederholte: »Nik-las!«
»Nik…las!«, sagte er und schaffte also auch das »s« am Schluss. Es lag etwas Rührendes in seinen Bemühungen, es mir recht zu machen. Nach einer weiteren Minute hatte er die zweite Vokabel »Tarun« gelernt und auch die Bedeutung verstanden. Er wiederholte die beiden Namen und zeigte dazu richtig auf sich und auf mich. Ich lobte ihn mit einem Lächeln. Kurz überlegte ich, welche Sprache ich ihm eigentlich beibringen sollte. Oriya, die Amtssprache in Orissa, konnte ich kaum. Im Sinne der Wissenschaft und bezogen auf sein Heimatland Indien wäre Englisch sicher richtig gewesen. Doch ich entschied mich für Deutsch. Tarun war in wenigen Minuten ein Teil von mir geworden, ein junger Mensch, der sich mir anvertraut hatte. Er gehörte zu mir und zu Alain,
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