Dreck: Roman (German Edition)

dem bloßen Auge verborgen. Aber die Axt war vielleicht schnell genug. Wenn er sich auf ihren Flug konzentrierte, sah er vielleicht etwas.
    Er warf noch einmal, und es war einfach alles zu schnell. Selbst der Stiel überschlug sich schneller, als er einzelne Bilder ausmachen konnte. Er musste lernen, die Welt zu bremsen, um sie sehen zu können. Sein Herz pochte,so war er der Axt hinterhergelaufen. Staub in seiner Nase. Füße, die in die lockere Erde sanken, ihn am Boden hielten.
    Wenn er so werfen könnte, dass das Blatt in einem Baum steckenblieb, verriet der abrupte Halt vielleicht etwas. Vielleicht sah er den Strudel direkt hinter dem Schaft. Die Plötzlichkeit brachte vielleicht eine Vision.
    Galen hob die Axt hinter den Kopf, wog sie ein wenig in der Luft, um ihr Gewicht zu ermessen, ihre Lage, tat einen Schritt und schleuderte sie auf einen knapp zehn Meter entfernten Baumstamm. Die Axt verfehlte ihr Ziel und landete im Dreck.
    Galen ging jetzt, statt zu rennen, allmählich erschöpft. Aber er hörte den Wind, der in den Pinien aufkam, Wolken zogen auf, der Tag verdunkelte sich plötzlich, und Galen wähnte sich auf der Schwelle zu etwas. Ein Baum in größerer Entfernung hatte niedrige tote Äste, die von hellgrünem Moos bedeckt waren. Glühende Arme im Schatten, gedämpftes Licht. Eine Emanation, leuchtend. Sie sahen unwirklich aus.
    Galen stand mit der Axt vor diesem Baum und versuchte, den Stamm zu ergründen, versuchte, ihn in der Luft zu fixieren und seinen Sog zu spüren, und beim Werfen spürte er, wie die Axt sich überschlug, bis sie auftraf, mit dem Stiel voran, und abglitt, in Erde und Farn.
    Fast, sagte er. Ganz knapp.
    Er holte die Axt, kehrte auf seine Position zurück und öffnete sich einem Universum, das beinahe in Gänze aus leerem Raum bestand. Neutronen und Protonen oder was auch immer, die herumschwirrten, elektrische und magnetische Verbindungen als unser einziger Zusammenhalt und kein Grund, weshalb der nicht Augenblicke lang aufgespalten werden konnte, aufgedeckt. Mit aller Macht warf er die Axt, wirbelnd durch die Leere, stehend, sehend, und das Blatt, abrupt aufgehalten, verband sich mit dem Stamm, der Stiel starr, vom Luftstrudel überschwappt, der Spalt aufgerissen, aber es war bereits Erinnerung, bereits fort. Er war einfach nicht schnell genug. Er musste es schaffen, in einem solchen Moment innezuhalten und darin zu reisen, ganz kurz zu schweben, und das geschah nicht. Seine Axt, die im Stamm hing, die hellgrünen Arme darüber, ein vollkommener Augenblick und doch schon vergangen, als wäre er nie gewesen.

 
 

 

 
    D ie Mafia kehrte erst am späten Nachmittag zurück. Galens Mutter und seine Großmutter auf einem Spaziergang im Camp Sacramento, Schmortopf im Ofen, der Geruch von Hühnchen und Zwiebeln in der Luft, und Galen oben mit der Möwe Jonathan .
    Jemand da?, rief seine Tante.
    Ja, sagte er. Ich lese. Die anderen sind spazieren.
    Danach keine Antwort mehr. Sie blieben unten und er oben, und das war gut so.
    Jonathan kämpfte nicht gern mit den anderen Möwen um Brocken. Alle dachten immer nur ans Essen, aber er nicht. Er testete die Grenzen der Schwerkraft und Physik, experimentierte im Flug, versuchte, die Welt ins Wanken zu bringen, versuchte, das Unwirkliche zu erhaschen, genau wie Galen. Jonathan geriet mitten in der Luft ins Strudeln und erlitt Rückschläge, genau wie Galen, wenn er ins Wasser stürzte. Das Erstaunliche war, dass Galen zuerst da gewesen war, nicht das Buch. Er hatte schon damit angefangen, bevor er das Buch las. Also war das Buch eine Art Bestätigung, ein Wiedererkennen.
    Am meisten verblüffte Galen, dass er das alles, obwohl das Buch ja eine Art Metapher war – schließlich handelte es von Möwen –, tatsächlich lebte. Die Zeit, in der er existierte, bereitete sich darauf vor, ihn zu erkennen.Das gehörte unmittelbar zum Prophetendasein. Es nützte nichts, wenn man eine Vision hatte und keiner sie verstand. Solche Bücher jedoch bereiteten die Menschen darauf vor, Galen zu verstehen.
    Er ließ das Buch auf die Brust sinken und lauschte. Er hatte den Kopfhörer auf und hörte eine Naturkassette von Wellen an einem Meeresstrand. Die hörte er immer, wenn er Die Möwe Jonathan las, im Wellenrauschen erkannte er die Unbeständigkeit der Dinge. Das Bilden und Brechen, Aufbau und Auflösung der Welt. Das Selbst war ebenso dürftig zusammengehalten. Es ging darum, das Ebben zu spüren, den Sog, wenn sich alles zurückzog, bevor es sich