Drei Irre Unterm Flachdach
Gelegenheiten. Nicht nur Großmu t ter, die angeblich ständig dummes Zeug redete, sondern auch unser Wes t besuch profitierte davon. Großvater meinte, unsere Verwandten würden die DDR jede s mal ein bißchen klüger wieder verlassen.
Vom Lagerraum führte ein schmaler Gang zur Werkstatt, in der interessante Geräte standen. Gustav konnte eine Hobelbank genauso gut b e dienen wie eine Kreissäge.
In den Wandregalen standen etliche Flaschen mit Verdü n nungsmitteln und ätzenden Beizen. Eins von den Mitteln hieß NUT. Es gab davon immer ungefähr zwanzig Flaschen Vorrat. Trotzdem kam es vor, daß plötzlich alle NUT-Reserven au f gebraucht waren. »Verflixt und zugenäht! Wer hat das NUT wegg e nommen? Ihr sollt nicht mit dem NUT aasen! Es hat immer NUT im Haus zu sein!« Großvater tobte. In Panik stürzte er los, um von irgendw o her neues zu besorgen.
NUT war zweifellos eine tolle Sache. Man konnte es schnüffeln. Wenn man ein Weilchen an der off e nen Flasche roch, dann war einem alles egal und die Hobelbank stand Kopf. Jedenfalls muß Großvater eine geheime Quelle g e kannt haben, denn länger als zwei Tage waren wir nie ohne Stoff. Wir b e rauschten uns beide an dem Zeug. Er, um sich ruhigzustellen, und ich, weil es mir Spaß machte. Keiner wußte es vom a n dern.
Im Keller stand dauernd das Wasser. Schuld daran war der hohe Grundwa s serspiegel. Um der Misere Herr zu werden, schaffte Großvater eine abenteuerliche Pumpe n konstruktion an. Sobald die Pumpe in Betrieb war, verstand man sein eigenes Wort nicht mehr. Der Motor machte einen Hölle n krach. Tagelang mußten wir uns über den Mot o renlärm hinweg anbrüllen.
Ausgerechnet in eine der Auspumpphasen muß der Tag gefa l len sein, an dem mich Mutter in einem Kinderchor unterbringen wollte. Wir fuhren zur berühmten Händel-Schule nach Be r lin-Mitte, und ich sang einer hageren Frau mit Dutt und Brille ein Lied vor. Nach der ersten Strophe unterbrach sie mich wütend: »Das Kind soll erst mal ordentlich sprechen lernen. Die Stimme klingt ja grauenvoll! Brüllt denn die Kleine den ganzen Tag?« »Nicht, daß ich wüßte«, flötete Mutter und tat vollkommen ahnungslos. Unsere Absaugpumpe erwähnte sie nicht. Wir vera b schiedeten uns und gingen. Die strenge Frau mußte ich nie wieder sehen, was mir recht war. Ich wollte ja nicht in einen Chor, sondern auf die Ballettsch u le.
Wenn der Keller unter Wasser stand, war Großvaters Laune noch schlechter als sonst. Sein »ND«-Archiv drohte zu ve r schimmeln, also schleppte er stape l weise Zeitungen rauf ins Haus. Oben breitete er sie zum Trocknen aus. Immer traf es die Jahrgänge 1949 bis 61. Das waren alle Zeitungen, die ganz unten in der Kiste lage r ten.
Wenn der Fußboden mit den feuchten »NDs« gepflastert war, konnte man sich im Haus – auf hundertvierzig Quadra t metern Wohnfläche waren Zeitungen aus dreizehn Jahren verteilt – pra k tisch nicht mehr bewegen. Ich hockte mich auf die Erde und studierte die Bilder auf den Titelseiten. Jah r gang 1961 gefiel mir am besten, weil man da sehen konnte, wie die Berliner Mauer entstanden war. Sie war genau so gebaut worden wie unser Amibu n galow. Stein auf Stein, mit Mörtel und Kelle. Ich hatte mir immer riesige Kräne mit Schwenkarmen vorgestellt, an denen fette Betonteile hingen. Doch auf den Zeitungsbildern sah alles ganz harmlos aus, wie in unserm Fotoalbum.
Während die alten »Neuen Deutschlands« vor sich hin trockneten, meckerte Großvater über den zu hohen Grundwa s serspiegel und die schlecht funktioni e rende Pumpe. Er fluchte auf den volk s eigenen Herstellerbetrieb: »Die wissen ja nicht, wie man Pumpen baut, diese Hornochsen! Dieses dr e ckige Lumpenpack!« Er schlich mit seinem Killerblick durchs Haus, wie ein Tiger durch die Wil d nis.
Stand der Keller mal nicht unter Wasser, fummelte Gustav, wenn er nicht h o belte oder beizte oder schnüffelte, an seinen Weinballons rum. Der alte Giftzwerg mischte da unten auch noch Apfelwein. In den Ballons gärten Flüssigkeiten der unte r schiedlichsten Färbung und Konsistenz, alle mit einer u n definierbaren Schaumschicht bedeckt. War der Gärungsprozeß abgeschlossen, füllte Großvater den fertigen Wein durch dünne Plastikschläuche in Flaschen um. Die Flaschen verschloß er mit einem roten oder grauen Gummihut und stapelte sie in Hol z regalen. Dort staubten sie ein, weil außer Großmutter niemand freiwillig von dem Gesöff trinken wollte. Aber die kriegte nichts. »Ein guter Wein
Weitere Kostenlose Bücher