Drei Kameraden
das obere Bett. »Wenn nun die Vorsteherin des Vereins für gefallene Mädchen plötzlich in der Tür steht...«
»Bis Frankfurt ist's noch lange«, sagte ich. »Ich passe schon auf. Ich schlafe nicht ein.«
Kurz vor Frankfurt ging ich in mein Abteil zurück. Ich setzte mich in die Fensterecke und versuchte zu schlafen. Aber in Frankfurt stieg ein Mann mit einem Seehundsbart ein, der sofort einen Koffer auspackte und zu essen begann. Er aß so intensiv, daß ich nicht zum Schlafen kam. Die Mahlzeit dauerte fast eine Stunde. Dann wischte der Seehund sich den Bart, legte sich lang und begann ein Konzert, wie ich es nie vorher gehört hatte. Es war kein einfaches Schnarchen; es war ein heulendes Seufzen, unterbrochen von stoßweisem Stöhnen und langgezogenem Blubbern. Ich konnte kein System darin entdecken, so vielfältig war es. Zum Glück stieg der Mann um halb sechs Uhr aus.
Als ich aufwachte, war draußen alles weiß. Es schneite in großen Flocken, und das Abteil war in ein seltsam unwirkliches Zwielicht getaucht. Wir fuhren schon durchs Gebirge. Es war fast neun Uhr. Ich dehnte mich und ging mich waschen und rasieren. Als ich zurückkam, stand Pat im Abteil. Sie sah frisch aus. »Hast du gut geschlafen?« fragte ich.
Sie nickte.
»Und wie war die alte Spiritistin in deinem Abteil?«
»Jung und hübsch. Sie heißt Helga Guttmann und fährt ins selbe Sanatorium wie ich.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Robby. Aber du hast schlecht geschlafen, das sieht man. Du mußt ein ordentliches Frühstück haben.«
»Kaffee«, sagte ich. »Kaffee mit etwas Kirsch.«
Wir gingen zum Speisewagen. Ich war plötzlich guter Stimmung. Es schien alles nicht mehr so schlimm wie am Abend vorher.
Helga Guttmann saß schon da. Sie war ein schlankes, lebhaftes Mädchen von südlichem Typ. »Merkwürdig«, sagte ich, »daß sich das so getroffen hat mit demselben Sanatorium.«
»Gar nicht so merkwürdig«, erwiderte sie.
Ich sah sie an. Sie lachte. »Um diese Zeit sammeln sich doch die Zugvögel alle wieder. Drüben...«, sie zeigte in die Ecke des Speisewagens, »der ganze Tisch dort fährt auch hin.«
»Woher wissen Sie das?« fragte ich.
»Ich kenne sie alle vom vorigen Jahr. Da oben kennt doch jeder den andern.«
Der Kellner kam und brachte den Kaffee. »Bringen Sie mir noch einen großen Kirsch dazu«, sagte ich. Ich mußte etwas trinken. Es war auf einmal alles so einfach. Da saßen Leute und fuhren zum Sanatorium, zum zweitenmal sogar, und es schien ihnen nicht viel mehr als eine Spazierfahrt zu sein. Es war dumm, so viel Angst zu haben. Pat würde zurückkommen, wie alle diese Leute zurückgekommen waren. Ich dachte nicht daran, daß alle diese Leute jetzt auch wieder hinfuhren – es war genug zu wissen, daß man zurückkam und wieder ein ganzes Jahr vor sich hatte. In einem Jahr konnte viel passieren. Unsere Vergangenheit hatte uns gelehrt, kurzfristig zu denken.
Wir kamen spätnachmittags an. Es war ganz klar geworden, die Sonne schien golden auf die Schneefelder, und der Himmel war so blau, wie wir ihn seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Am Bahnhof wartete eine Menge Leute. Sie grüßten und winkten, und aus dem Zuge winkten die Ankommenden zurück. Helga Guttmann wurde von einer lachenden blonden Frau und zwei Männern in hellen Knickerbockern in Empfang genommen. Sie war ganz aufgeregt und wirbelig, so als wäre sie nach langer Abwesenheit nach Hause gekommen. »Auf Wiedersehen, nachher, oben!« rief sie uns zu und bestieg mit ihren Freunden einen Schlitten.
Die Leute zerstreuten sich rasch, und wir standen ein paar Minuten später allein auf dem Bahnsteig. Ein Gepäckträger trat zu uns heran.
»Welches Hotel?« fragte er.
»Sanatorium Waldfrieden«, erwiderte ich.
Er nickte und winkte einem Kutscher. Die beiden verstauten die Koffer in einem hellblauen Schlitten, der mit zwei Schimmeln bespannt war. Die Pferde hatten bunte Federbüschel auf den Köpfen, und der Dampf ihres Atems umwehte ihre Mäuler wie perlmutterfarbenes Gewölk.
Wir stiegen ein. »Wollen Sie zur Drahtseilbahn oder mit dem Schlitten 'rauf?« fragte der Kutscher.
»Wie weit ist es mit dem Schlitten?«
»Eine halbe Stunde.«
»Dann mit dem Schlitten.«
Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und wir fuhren los. Es ging aus dem Dorf hinaus und dann in Kehren aufwärts. Das Sanatorium lag auf einer Anhöhe über dem Dorf. Es war ein langgestrecktes Gebäude mit langen Fensterreihen. Vor jedem
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