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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sich nun vor ihr. Und ihr Vater landete heute Morgen in Buenos Aires, um sie zurückzuholen. Das war völlig absurd. Genauso absurd wie Damiáns Tangoalphabet, so verrückt wie Lindseys Tangotheorien. Was hatte sie in diesem Wirrwarr verloren? Sie konnte diese bizarren Vorkommnisse nicht deuten. Das führte alles ins Nichts. Sie brauchte jetzt Klarheit. Ordnung. Sie wollte ins Ballett zurück. So schnell wie möglich. Damiáns Kindheitstrauma ließ ihn wirre Zeichen erfinden, in denen er sich bespiegelte. Und was kam dabei heraus? Das Zerrbild eines Tanzes, der dieser symbolischen Aufladung überhaupt nicht bedurfte. Im Gegenteil. Das Magische daran war doch, dass hinter der ganzen artifiziellen Grundstimmung und den komplizierten Codes ein Stück Natur durchschimmerte. Etwas Simples, Archaisches, Unmittelbares. Mann und Frau in klaren Rollen. In ihrer ewigen Isolation und Einsamkeit zum Paar vereinigt. Warum mehr sagen wollen als dies? Es war ja recht besehen nicht einmal etwas Erotisches an diesem Tanz. Schon eher etwas Religiöses. Ein Gebet zu zweit. Ernst und Sammlung stand in den Gesichtern geschrieben, die sie in den letzten Tagen beobachtet hatte. Es waren Körper in höchster Konzentration, die Stirn in Falten gelegt, alle Aufmerksamkeit auf den Partner gerichtet. Und dann war es Kunst. Höchste Konzentration, die Selbstvergessenheit erzeugte. Keine Bedeutung, sondern reiner Ausdruck.
    Damián war kein Künstler. Er war ein Blender. Ein Manierist. Ein Narzisst. Kein Wunder, dass Hector ihn hinausgeworfen hatte. Hectors Auftritt im Almagro war etwas ganz anderes gewesen. Zugleich gewaltiger und bescheidener, erfüllt von der Würde der Beschränkung auf das Wesentliche. Ausdruck, aber eben kein Ausdruckstanz mit Chiffren und bedeutungsschwangeren Posen. Insofern hatte dieser ganze Irrsinn ihr etwas gezeigt: Sie wusste jetzt, in welche Richtung sie gehen würde. Sie hatte vielleicht nichts über Damián erfahren und nur Widersprüchliches über Tango. Aber sie wusste jetzt mehr über sich selbst und warum sie klassisches Ballett so sehr liebte: wegen der Freiheit, die aus der Beschränkung erwächst, dem Widerstand gegen die Auflösung. Wegen des Verzichts auf eine Bedeutung und der Verneigung vor dem Sinn.

23
    S ie erreichte die Plaza San Martin, erkannte die Bushaltestelle wieder, wo sie vor einigen Tagen das erste Mal den Fuß in diese Stadt gesetzt hatte. Mit seinen riesigen Fabelbäumen wirkte der Platz noch immer ein wenig verwunschen. Der blauviolette Schimmer auf den blühenden Zweigen der Jacarandas setzte sich auch auf den geparkten Autos, den Straßen und Gehsteigen fort. Das Hotel befand sich auf der anderen Seite des Platzes. Der Rezeptionist fand den Namen nicht gleich, und sie musste ihn zweimal buchstabieren.
    »Four hundred and three«, sagte er dann, »checked in twenty minutes ago.«
    Er zeigte ihr, wo die Telefone standen, und nach dem dritten Klingeln hörte sie seine Stimme:
    »Giulietta? Liebes.«
    »Hallo, Papa.«
    »Wo bist du?«
    »Hier unten. In der Lobby.«
    »Ich komme sofort.«
    Sie schlenderte durch die klimatisierte Empfangshalle. Ein prächtiges Hotel. Marmorböden. Dicke, schallschluckende rote Teppiche. Die Gäste Geschäftsreisende mit Aktenkoffern aus Leder und Hemden mit Manschettenknöpfen. Einige Männer warfen ihr eindeutige Blicke zu, vermaßen ohne Skrupel ihren Körper und zögerten auch nicht, ihr eigenes Urteil anhand der Miene anderer Männer zu überprüfen.
    Warum hatte er sie nicht hinaufgebeten? Warum ließ er sie hier unten warten?
    Woher dieses Misstrauen bei ihr?
    Sie setzte sich in einen allein stehenden Sessel am Fenster, was jedoch auch nicht verhinderte, dass kurz darauf ein Mann vor sie hintrat und zunächst auf Spanisch und dann auf Englisch fragte, ob sie auf jemanden wartete. Ja, erwiderte sie, auf ihren Ehemann. Oh, sorry. Das bräuchte ihm nicht Leid zu tun, es sei denn, er bliebe hier stehen, dann vermutlich schon. Aber er blieb nicht stehen, sondern trat sofort den Rückzug an. Es war immer wieder rätselhaft. Worauf reagierten diese Typen nur? Was hatte sie nur getan, um diese Anmache herauszufordern? Sie konnte nicht einmal zu den Fahrstühlen schauen, um zu sehen, ob ihr Vater dort erschien, ohne zu riskieren, angestarrt zu werden.
    Daher überraschte er sie am Ende.
    »Giulietta«, sagte er leise, griff nach ihrer Hand und zog sie aus dem Sessel hoch. Sein plötzliches Erscheinen erschreckte sie. Es war so unwirklich. Ihr Vater hier. Die

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