Drei Minuten mit der Wirklichkeit
kurze, fast schüchterne Umarmung tat ihr trotz allem gut. Sie roch sein Aftershave, spürte die Feuchtigkeit seiner frisch geduschten Haare. Sie brachte kein Wort heraus, schaute immer wieder wie eine befangene Fünfzehnjährige zu Boden. Es war ihr Vater, der das Wort führte, Markus Battin, zugleich vertraut und fremd. Hier, in dieser Umgebung? Die Strapaze des Fluges stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das Weiße in seinen Augen war von ein paar roten Äderchen durchzogen, und sein normalerweise hellwacher Blick wirkte ein wenig müde. Überhaupt war da ein Zug um seine Augen, eine gewisse Unsicherheit. Das hatte er ihr gegenüber nicht oft gezeigt. Nur Anita. Anita konnte das auslösen, in seltenen Momenten, wenn sie ihn in einer Diskussion scharf zurechtwies, weil er an eine ihrer allerheiligsten Überzeugungen rührte.
Er fragte, ob sie hungrig oder durstig sei, und sie gingen in die Hotelbar, um einen Kaffee zu trinken. Eigentlich hätte sie sagen sollen, dass es ihr Leid tat, dass er extra hergekommen war, aber der Satz kam ihr nicht über die Lippen. Sie vermochte überhaupt nichts zu sagen oder klar zu denken. Sie befand, es sei Sache ihres Vaters, diese Situation zu erklären. Er redete über den Flug, über Berlin, über Anita und darüber, dass sie sich Sorgen um sie gemacht hätten. Das sah sie auch so. Er war nervös. Aber dann fiel ihr wieder ein, was in den letzten Tagen alles geschehen war, und noch bevor sie richtig Platz genommen hatten, ignorierte sie seine Frage nach ihrem Befinden und erwiderte:
»Papa, warum bist du gekommen?«
»Weil ich mit dir reden muss«, sagte er
»Aber dafür extra hierher fliegen … ich meine, das ist doch …«
»… genauso irrsinnig wie deine Abreise letzte Woche? Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht.«
Giulietta nickte dem soeben erschienenen Kellner zu und sagte: »Un café y un agua sin gas, por favor.«
»Hast du etwas erreicht?«, fuhr ihr Vater fort. »… ich meine, hast du ihn getroffen?«
»Bist du deshalb hier? Suchst du ihn? Willst du ihn doch anzeigen?«
»Nein«, erwiderte er. Sein Gesicht wurde ernst. »Meine Meinung über diesen Mann ändert sich nicht. Er ist verrückt. Aber ich bin dir eine Erklärung schuldig. Ich habe dir nicht alles erzählt, was an diesem Abend vorgefallen ist.«
»Und? Was ist vorgefallen?«
»Er hat dir also nichts gesagt? Nichts?«
Giulietta versuchte, die Gedanken ihres Vaters zu ergründen. War es Einbildung, oder warum hatte sie den Eindruck, dass dieses Gespräch genauso wie die Gespräche vor einer Woche verlaufen würde, gleich im Anschluss an diesen aberwitzigen Vorfall. Sie musterte sein Gesicht, die hellen, graugrünen Augen, die sie von ihm geerbt hatte. Ihre Freundin Aria meinte immer, er sähe gut aus, aber ein wenig brutal. Ihr Vater hatte kein brutales Gesicht. Es war nur markant geschnitten und wirkte rau. Wegen der Pickelnarben auf der Wange. Dem miserablen Essen im Arbeiter- und Bauernstaat habe er das zu verdanken, pflegte er zu sagen, dem ganzen Gift, das die Kombinate auf die Äcker gespült hätten, um das Plansoll zu erfüllen. Seltsamerweise ließen ihn diese Furchen und Hautunreinheiten jünger aussehen, als er war. Aber vielleicht lag das auch an seinem vollen Haar, dem die Umweltgifte der ehemaligen DDR offenbar nicht geschadet hatten.
»Ich treffe ihn heute Abend«, log sie und fixierte ihn. Aber da war nichts. Keine Reaktion. Er blieb völlig ruhig, ausdruckslos.
»Wann?«, fragte er.
»Um sieben.«
»Und wo?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will ihn allein treffen. Das ist eine Sache zwischen ihm und mir.«
»Giulietta, der Mann ist unberechenbar. Er hat Wahnvorstellungen. Warum begreifst du das nicht?« Er griff nach ihrer Hand. Aber sie zog sie zurück. Im gleichen Moment kam der Kellner mit ihren Getränken. Ihr Vater verstummte, während die Bestellung auf ihrem Tisch abgeladen wurde. Dann fuhr er fort:
»Warum vertraust du mir nicht?«
»Weil du mir nicht die Wahrheit sagst. Was ist in Berlin vorgefallen? Warum hat Damián dich angegriffen?«
»Er hat überreagiert. Sein Temperament ist mit ihm durchgegangen. Und ich … nun ja, ich habe ihn vielleicht auch ein wenig provoziert.«
»Provoziert. Du? Wieso?«
»An jenem Dienstagabend bin ich aus eigenem Antrieb in deine Wohnung gefahren. Er … er hat mich nicht angerufen. Ich habe das nur der Polizei erzählt, weil ich … weil ich ihnen eben irgendetwas erzählen musste. Ich hatte dich den ganzen Tag nicht
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