Drei Wunder (German Edition)
nach abgestandener Luft. Es gab keine Möbel, nur die zwischen den Fenstern eingebaute Sitzbank und eine traurige Reihe von Kisten an der gegenüberliegenden Wand. Olivia atmete tief durch und ging entschlossen zu den Kisten. Sie kniete sich daneben und fuhr mit den Händen über das Kreppband.
Vorsichtig, voller Angst vor jedem Geräusch, das sie machen könnte, zog Olivia die Klappen eines Kartons zurück. In ihrer Nase kitzelte sofort der vertraute Geruch, eine Mischung aus Salzwasser und Erdbeer-Kiwi-Shampoo.
Sie griff in den ersten Karton und fand Cowboystiefel und Metallic-Ballerinas. Der zweite Karton enthielt Accessoires, zumeist massive Halsketten und bedruckte Schals. Erst in der dritten Kiste fand Olivia das Kleid, ordentlich zusammengefaltet obenauf.
Sie strich mit den Fingern über den weichen, kühlen Satin. Das Muster, das einen beim genauen Hinsehen ganz schwindlig machte, wurde undeutlich, als ihre Augen sich mit Tränen füllten. Schnell tastete sie nach dem Reißverschluss, und schon stießen ihre Finger durch das klaffende Loch. Alles, was sie jetzt noch brauchte, war eine Schneiderin.
Sie stemmte sich hoch und hielt das Kleid erst vor sich, dann an ihren Körper.
Natürlich.
Violet hatte die Antwort die ganze Zeit schon gehabt.
4
Der Regen ließ einfach nicht nach.
Es war schon ein vertrautes Geräusch, und jeder – von der punkigen Empfangsdame an der Schule bis zur flotten Wetterfee in den Sechs-Uhr-Nachrichten – schien eine Meinung dazu zu haben, wann die Regenzeit schließlich aufhören würde.
Vor dem Umzug hatte Olivias Mutter ihrer Tochter enthusiastisch erklärt, dass sie zu keiner besseren Jahreszeit ankommen könnten. »Du wirst von März bis Oktober keinen Tropfen Regen sehen«, hatte sie gesagt.
Bis jetzt hatte es mindestens einmal pro Tag geregnet. Und es war nicht nur leichtes Nieseln gewesen, sondern es gab heftige Wolkenbrüche von der Art, bei der man besser keine zu langen Hosen trägt oder aus einem Auto steigt.
Olivia war ein Stück die Dolores Street hinuntergegangen, als der freitägliche Regenguss einsetzte, fette Tropfen klatschten auf den Gehsteig. Fast eine Stunde später, in der sie durch riesige Pfützen schmutzigen Wassers gestapft war, war sie zu dem Schluss gekommen, dass es nicht eine ihrer brillantesten Ideen war, im strömenden Regen nach einer Schneiderin zu suchen. Nachdem sie sich von einer überfluteten Straße zur nächsten geschleppt und dabei die Schaufensterauslagen überflogen hatte – ein süßer kleiner Antiquitätenladen, ein Uhrmacher und ungefähr zehn Yogastudios im Umkreis von sechs Blocks –, war sie sich sicher, dass sie keine Schneiderin in ihrer Nachbarschaft finden würde.
Sie zog den Kragen ihrer Windjacke enger um den Hals, als ein schwaches Licht aus einem Eckladen ihre Aufmerksamkeit erregte. Es kam aus einem Gebäude, an dem sie jeden Tag auf dem Weg zur Bushaltestelle vorbeikam. Eine burgunderrote Markise ragte aus der schmutzigen Betonwand, und Olivia hatte immer angenommen, die Räume stünden leer. Im Fenster befand sich ein Schild, von dem sie hätte schwören können, dass bisher ZU VERMIETEN darauf gestanden hatte. Doch als Olivia näher kam und sich unter die Markise duckte, die wild im Wind flatterte, sah sie, dass auf dem handgeschriebenen Schild ein Name stand: Mariposa of the Mission.
Olivia wusste, dass die Gegend hier The Mission hieß, dennoch konnte sie mit dem Namen nicht viel anfangen. Sie schirmte ihre Augen rechts und links mit den Händen ab und spähte hinein. Der Schein einer gelben Straßenlaterne erschwerte es, irgendetwas zu erkennen, und sie konnte gerade noch die Umrisse von Kleiderpuppen und -ständern wahrnehmen. Der Laden erinnerte sie an eine verlassene Reinigung, nur die sich mechanisch drehende Hemdenstange fehlte.
Blinzelnd ließ Olivia ihren Blick durch den Raum schweifen. In der anderen Ecke saß ein zierliches, dunkelhaariges Mädchen. Sie blickte von dem Taschenbuch auf, das offen in ihrem Schoß lag, und sah durch das Fenster genau zu ihr, fast, als hätte sie auf Olivia gewartet.
Olivia machte verblüfft einen Schritt zurück. War es möglich, dass die ganze Zeit, während der sie nach einer Schneiderin gesucht hatte, diese tatsächlich gleich um die Ecke gewesen war, nicht mehr als fünfzig Meter von ihrer Haustür entfernt? Warum hatte sie diesen Laden noch nie vorher gesehen?
Olivia holte tief Luft und stieß vorsichtig die schwere Glastür auf.
Winzige Glocken erklangen,
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