Drei Wunder (German Edition)
bisher.
»Morgen, Ravi«, flötete Calla. Sie winkte mit einer Hand, und Olivia sah, dass sie rot-schwarz gestreifte fingerlose Handschuhe trug.
Ravi senkte den Blick schnell wieder auf sein Notizbuch und hakte Callas Anwesenheit mit übertriebenem Schwung ab. »Ja, ähm, guten Morgen«, gab er mit leichtem Stottern zurück, bevor er weitermachte.
Violet warf Olivia einen bedeutungsvollen Blick zu. »Sieht so aus, als könne Ravi auch ein oder zwei Nachhilfestunden brauchen«, meinte sie kichernd.
»Olivia Larsen?«, ging Ravi weiter die Liste durch.
Olivia schrak beim Klang ihres Namens zusammen. Die Reste eines wahrscheinlich ziemlich verrückt aussehenden Lächelns verschwanden von ihren Lippen, als sie sich aufrichtete und ihr der Kopf vor möglichen Antworten schwirrte. Hier? Hi? Nett, Sie zu sehen?
»Anwesend«, sagte Olivia, zu laut und mit einem nervösen Zittern. Es klang fast wie Singsang, aber ganz sicher nicht cool. Sie lauschte angestrengt nach einem Kichern aus den hinteren Reihen, doch es herrschte nur belastende Stille, die drohte, sie zu verschlucken.
Violet räusperte sich und sprang vom Tisch. »Na ja«, sagte sie munter, »die andere gute Nachricht ist, dass es immer ein Morgen gibt.«
***
Endlich war Mittagspause, und Violet war nahe daran, aufzugeben.
Die meiste Zeit, stellte sie genervt fest, unternahm Olivia nicht einmal irgendeine Anstrengung, Spaß zu haben. Und wenn sie etwas machte, war es definitiv nicht das Richtige.
Los ging es mit ihrem Verhalten in Kunst. Trotz Violets Drängen, sich zu ein paar Leuten an den Tisch zu setzen, die Olivia von der Party und aus anderen Kursen kannte – Austin, eine feenhafte Blondine, und ihr Freund, der Bassist mit den Dreadlocks, Nemo oder Reno oder irgendetwas Ähnliches mit zwei Silben –, hatte Olivia sich allein in eine Nische neben dem Materialienschrank gesetzt.
Die Klasse arbeitete an Selbstportraits. Austin und Tevo sahen zur Inspiration alte Fotos und Plattencover an, Olivia hatte eine kaugummikauende Gothik-Anhängerin neben sich sitzen, die an einer Rüstung aus Blechringen arbeitete.
Olivia erinnerte sich an Violets Ratschlag, wandte sich zu dem düsteren Mädchen und räusperte sich.
»Wie lange denkst du denn, dass das dauern wird?«, fragte Olivia voller Selbstvertrauen. »Bis deine Rüstung fertig ist, meine ich.«
Das Mädchen sah sie an und schob dann schmollend die Lippen vor. »Lebenslänglich«, antwortete sie düster, bevor sie ein weiteres Glied einschnappen ließ.
Violet ließ theatralisch ihren Kopf auf den Tisch fallen.
Der nächste Kurs war Fernöstliche Religionen , das hatte Violet ihr geraten zu belegen. Sie war der Meinung, dass Olivia interessantere Leute kennenlernen müsste und etwas Richtiges lernen sollte, statt nur die Daten des Hundertjährigen Kriegs auswendig zu lernen.
Bislang hatte die Klasse allerdings bloß lebhafte Diskussionen darüber geführt, wessen Mutter zum Buddhismus übergetreten war und was Angelina Jolies tibetische Tattoos wirklich bedeuteten. Violet war so fasziniert von der Unterhaltung über die exotischen Geburtsorte und Reiseziele von allen in der Klasse, dass sie ihre selbsternannte Rolle als Olivias Coach ganz vergessen zu haben schien.
Olivia kritzelte geistesabwesend auf der Rückseite ihres Bucheinbands und fragte sich, was wohl das chinesische Symbol für Fehlschlag war.
Dann endlich: Die Pause. Hier an der Golden Gate hatten die Schüler unterschiedliche Mittagspausen. Das bedeutete, dass Olivia an manchen Tagen bereits zur Frühstückszeit ein Thunfischsandwich essen musste, dafür an anderen Tagen am Nachmittag das Gefühl hatte, ihr knurrender Magen würde sich gleich selbst verzehren. Heute lag Olivias Pause irgendwo in der Mitte und die der meisten anderen anscheinend auch: Der Hof war mehr als voll, als sie sich unauffällig zu einer ruhigen Ecke am Teich aufmachte.
Sobald sie sich auf einen Stein gesetzt hatte und ihren restlichen Bagel herausholen wollte, zerrte Violet sie schon wieder hoch. »Ich hab nur zwei Worte für dich«, erklärte sie, als sie mit ihr auf die von Bäumen gesäumte Straße ging. »Raus hier.«
»Wozu soll ich mit den anderen essen, ich hab keinen Hunger«, murrte Olivia, als Violet mit ihr die Straße entlangging. Sie hatte gehofft, dass mit Violets Auftauchen auch ihr Appetit zurückkommen würde. Aber bisher war das nicht passiert.
»Dann tu einfach so«, war Violets Ratschlag. »Oder bestell dir einen Tee. Die Leute trinken
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