Drei Wunder (German Edition)
atmete erschrocken ein.
»O nein!«, rief sie aus und legte den Arm um Olivias Schultern. »Doch nicht du auch noch! So schlimm ist es auch wieder nicht, wirklich. Meine Güte, ich mache ein solches Drama daraus.«
Olivia wollte lachen, doch das Geräusch, das herauskam, verwandelte sich unterwegs irgendwie in einen lauten, hässlichen Schluchzer. Inzwischen lächelte und weinte sie gleichzeitig und schüttelte verlegen den Kopf.
»Nein«, stieß sie schließlich hervor. »Das ist es nicht.«
Olivia schnappte in kurzen Stößen nach Luft, als hätte sie Schluckauf, aber die Tränen flossen immer weiter, und Calla rieb in kleinen, tröstenden Kreisen über ihren Rücken.
»Was ist denn los?«, fragte sie vorsichtig.
Olivia drückte sich die Handballen in die Augen, wischte sie damit trocken und holte noch einmal tief Luft, bis sie ruhiger wurde.
»Es ist nur … wegen meiner Schwester«, stieß sie hervor, bevor sie wieder nach Luft schnappen musste. Ihr war selbst nicht klar gewesen, warum sie weinte, bis sie die Worte laut ausgesprochen hatte.
Calla beugte sich vor und strich Olivias Locken zurück. »Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast«, sagte sie leise.
»Habe ich.« Olivia nickte. »Ich meine, hatte ich. Sie ist im letzten Sommer gestorben.«
Sobald sie es ausgesprochen hatte, spürte sie, wie sich weitere Schluchzer in ihr aufbauten. Diese Worte klangen so echt. So endgültig. Sie konnte aber nicht glauben, dass sie wahr waren.
Olivia hörte, wie Calla die Luft anhielt und dann langsam und mit einem Seufzer ausatmete.
»Das tut mir leid«, sagte Calla. »Ich hatte ja keine Ahnung. Ich verstehe total, wenn du nicht darüber reden willst«, sagte sie und drückte Olivias Schulter. »Aber falls doch …«
Olivia lächelte und holte tief Luft. Es fühlte sich an, als hätte sie mit einer Mauer in ihrem Inneren gelebt, die alles zurückgehalten hatte. Und jetzt, plötzlich, war diese Mauer eingestürzt. Alles kam in einer Flut heraus.
»Wir waren in unserem Sommerhaus auf Martha’s Vineyard«, begann Olivia. »Es war spät. Meine Eltern waren ausgegangen. Ein paar von uns wollten nachts zum Schwimmen an den Strand. Da war diese Stelle, wo ein Sturm über die Halbinsel gezogen war. Eine Art Stromschnelle. Es hieß, die Strömung sei dort so stark, dass sie dich in Sekunden ins Meer hinausziehen könnte.«
Olivia drückte die Handflächen gegen die Knie.
»Violet bat mich, mit ins Wasser zu kommen«, fuhr Olivia fort, jetzt wieder ruhiger. »Sie drängte mich mitzukommen. Ich sagte ihr, dass ich das nicht machen würde und sie sollte es auch nicht tun. Ich hasse solche Dinge. Dabei war ich immer die bessere Schwimmerin … Ich hätte mit ihr da hineingehen sollen. Ich hätte dort sein sollen …«
Olivia brach ab, ihre Stimme wurde von Erinnerungen erstickt. Violet, wie sie knietief im Wasser stand, die ausgefransten Enden ihrer Jeans nass, ihr grünes Spitzenhemd klebte an ihrer Haut.
Violet bis zur Taille in den wütenden Wellen, die Arme hinter sich ausgestreckt, wie sie Olivia aufforderte, hereinzukommen.
Violet, wie sie lachte und in die tiefe Dunkelheit des Meeres tauchte. Das Wasser, das sich um ihren Hals schloss und sie ganz plötzlich nach unten zog …
Violets Gesicht, das letzte Mal, die Augen aufgerissen, den Mund vor Panik verzogen, weit geöffnet, das Haar wie Seegras im Wasser, als sie versuchte, nach oben zu kommen.
Und dann … nichts.
Endlose Sekunden furchtbarer Stille.
Auf einmal Panik.
Die Jungs rannten los und schrien, andere hielten sie und Olivia zurück, als sie Violet blindlings ins Wasser folgen wollten. Olivia selbst, die schrie, dass sie ihrer Schwester helfen müsste.
Das Wissen, dass es zu spät war. Das Wissen, dass sie nie wieder herauskäme, wenn sie ihr folgte.
Olivia schnappte nach Luft.
Es war vorbei.
Olivias Gesicht war jetzt tränenüberströmt, und ihre Schultern zuckten, wie von weit weg kam ein Wimmern aus ihrem zitternden Mund.
»Das ist so furchtbar. Ich kann es mir nicht einmal vorstellen …«, sagte Calla nach ein paar Augenblicken schwerer Stille. »Und da sitze ich hier und weine wegen eines dummen Jungen.« Calla hakte sich bei Olivia ein und zog sie an sich. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir wirklich unheimlich leid, Olivia.«
Olivia erlaubte ihrem Körper nachzugeben. Es fühlte sich gut an, jemandem nahe zu sein. Es fühlte sich gut an, endlich zu weinen. Jetzt, wo alles gesagt war, jetzt, wo alles draußen
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