Drei Wunder (German Edition)
Gesichtszüge erkennen zu können. Selbst im Dunkeln merkte sie, dass er nervös und überwältigt aussah und unsicher. Dass er genau so aussah, wie sie sich fühlte.
Und dann küsste sie ihn. Sie konnte nicht anders.
33
»Brauchst du Hilfe?«
Olivia blickte über die Empfangstheke, hinter der die Sekretärin die Post bearbeitete. Der letzte Gong des Tages würde gleich ertönen, und Olivia hatte ihren Kunstlehrer um Erlaubnis gebeten, früher gehen zu dürfen. Sie hatte gesagt, sie sei in einer persönlichen Krisensituation.
Was letztlich die Wahrheit war. Wenn es nicht als persönliche Krisensituation zählte, in der Halle auf Calla zu warten, um ihr endlich ihre Gefühle für Soren zu beichten, was dann?
Nach dem restlichen Wochenende am Strand mit Larks Familie (die Jungs mussten schon früh am Samstagmorgen fahren, wobei sie Larks Eltern nur knapp verpassten) hatte Olivia beschlossen, dass es reichte. Sie konnte Soren nicht aufgeben, aber sie konnte ihn auch nicht weiter hinter Callas Rücken sehen. Es wurde langsam richtig ernst zwischen ihnen, und ihr Freundeskreis war zu klein. Calla musste es irgendwann erfahren.
Die einzige Möglichkeit war, ehrlich zu sein. Auch wenn es sicher unangenehm und furchtbar würde, so würde es sich am Ende doch lohnen. Sie und Soren könnten zusammen sein, ohne Angst haben zu müssen, erwischt zu werden. Und Calla würde zwar verletzt und wütend sein und vielleicht alle neuen Freundinnen, die Olivia inzwischen hatte, gegen sie aufbringen, aber sie würde nicht für immer sauer sein, oder?
Olivia spielte mit einem Knopf ihres braun-weiß gepunkteten Kleides und schaffte es, Bess gezwungen anzulächeln.
»Nein, danke. Ich warte nur auf jemanden«, sagte Olivia und rutschte auf der Bank weiter in Richtung Fenster. Wenn bloß die Hilfe, die sie brauchte, so einfach zu bekommen wäre wie eine Erlaubnis, früher nach Hause zu gehen. Und es gehörte sicher nicht zu Bess’ Repertoire, Schülerinnen Ratschläge zu geben, wie sie ihren Freundinnen beichten konnten, dass sie sich mit ihrem Ex trafen. Wenn wenigstens Violet da wäre. Doch wer weiß, wann die von ihrem Segeltörn zurückkam.
Der Gong ertönte, und Olivias Schläfen pochten, ihr Magen krampfte sich zusammen, als die Halle sich allmählich mit Schülern füllte. Alle sahen so abscheulich fröhlich und sorglos aus. Als hätte man ihnen gesagt, sie sollten besonders breit lächeln und extra schwungvoll laufen, nur damit Olivia sich noch schlechter fühlte, als sie es sowieso schon tat.
Jedes dunkelhaarige Mädchen in Jeans schien wie Calla auszusehen, und Olivia merkte, wie sie vor Nervosität zitterte und ihre Ohren glühten. Schließlich wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich betete, Calla nicht zu sehen, und zwar so angestrengt, dass sie die Pilzschuhe erst bemerkte, als sie direkt vor ihr standen.
»Hey«, sagte eine kühle Stimme von oben, und sie blickte hoch. Miles war ganz bestimmt kein Meister im glücklichen Timing.
»Hey Miles«, grüßte sie schnell. »Ich warte gerade auf jemand, deshalb …«
»Ach ja?«, sagte er mit einem Lachen, bei dem Olivia regelrecht eine Gänsehaut bekam. »Wie cool. Du musst echt beschäftigt sein, was?«
»Ähm, irgendwie ja«, sagte Olivia leise und blickte von Miles in die Eingangshalle und wieder zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. »Tut mir leid, es ist … eine lange Geschichte, und ich habe einfach keine Zeit, um …«
»Du hast für gar nichts Zeit, oder?«, fragte Miles und ließ die Hände nach unten fallen. »Du hast keine Zeit zu reden, du hast keine Zeit zu telefonieren, du hast keine Zeit, übers Wochenende zum Filmen nach Santa Cruz zu fahren, wie wir es verabredet hatten …«
Olivias Augen wurden groß, und sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Miles!«, rief sie aus, stand auf und ließ ihre Tasche mit einem Knall fallen. »Es tut mir so leid. Ich habe mich in letzter Minute entschieden, eine Einladung anzunehmen und an den Strand zu fahren. Es ging alles so schnell, und ich muss wohl völlig abgedreht sein …«
»Abgedreht?«, wiederholte Miles, die dunklen Augen wütend zusammengekniffen. »Ach ja? Und du konntest nicht einmal anrufen? Ich habe dich mindestens zehn- oder zwölfmal angerufen …«
»Ich war im Haus von Larks Eltern in Stinson Beach«, erklärte Olivia schnell. »Ich hatte das ganze Wochenende kein Netz, bitte glaub mir.«
Es war die Wahrheit, doch selbst Olivia konnte hören, wie armselig das klang. Sie
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