Drei Wunder zum Glück (German Edition)
herausgerissen hatte, dass sie losgegangen war, um sie zu fotografieren.
»Sieh dir das an«, sagte Rosanna und hielt Hazel die Fotografie hin. Die Ränder waren verschwommen, doch der Bildmittelpunkt war grün und klar, und diese eine ausgerissene Pflanze reckte ihre erdverkrusteten Wurzeln aus der unteren Ecke des Bildes hoch in den Himmel, wie Arme, die sich nach einer Umarmung ausstrecken, oder wie ein offener Mund, der verletzt und rau vom Schreien ist.
»Du siehst Dinge, die von den meisten Menschen nicht wahrgenommen werden«, fuhr Rosanna fort. »Kleine Dinge. Geschichten, die normalerweise nicht erzählt werden, Geschichten, die dich brauchen, um erzählt zu werden.«
Hazel sah jetzt das Foto genau an und versuchte, es durch Rosannas Augen zu betrachten.
»Erinnerst du dich noch, was du zu mir bei meiner Ausstellung gesagt hast?«, fragte Rosanna. »Du hast über mein Porträt von Adele gesprochen und gemeint, du sähest dort eine Geschichte. Aber es war nicht ihre Geschichte und auch nicht meine. Es war deine.«
Hazel erinnerte sich an den Ausdruck in den Augen der Frau und welches Gefühl das Gemälde bei ihr ausgelöst hatte.
»Es ist die gleiche Geschichte, die ich hier, in dieser Fotografie sehe«, sagte Rosanna und wedelte mit dem Foto in ihrer Hand. »Und der einzige Grund, weshalb du diese Geschichte erzählen kannst, liegt in dem, wer du bist. Und wo du herkommst.«
Hazel blickte zurück zu der Pflanze auf dem Foto. Es war ihr tatsächlich vorher nicht klar gewesen, aber da war etwas. Etwas, was mehr war als nur ein Haufen Unkraut und Erde. Es war eine Geschichte. Hazels Geschichte. Und vielleicht war sie es wert, erzählt zu werden.
»Wir alle müssen auf unserem Weg durch mancherlei Schlaglöcher«, sagte Rosanna. »Aber das bedeutet nicht, dass wir auf dem falschen Weg sind.«
Hazel blickte hoch zu Rosanna und umarmte sie spontan. Plötzlich wünschte sie sich nichts mehr, als Rosanna alles zu erzählen, und wenn auch nur, damit sie sich keine Sorgen mehr machen musste, wie viel Zeit ihr noch blieb.
Aber vielleicht ist genau das der Punkt, dachte Hazel mit geschlossenen Augen, während sie das Gesicht in Rosannas langem, warmem Haar begraben hatte. Rosanna musste ihren eigenen Weg gehen, genau wie Hazel den ihren.
Hazel lehnte sich zurück und wischte die restlichen Tränen aus ihren Augen. »Danke«, sagte sie. »Für alles.«
Rosanna lächelte und nickte, bevor sie Richtung Tür ging. »Darf ich dich jetzt hier lassen, damit du alles noch aufhängst?«, fragte sie. »Billy bekommt einen Anfall, wenn ich mich nicht noch einmal hinlege, bevor all die Gäste kommen.«
Hazel sah ihr nach. »Rosanna?«, rief sie, kurz bevor sie zur Tür hinausging.
Rosanna drehte sich zu ihr um. »Ja?«
»Ich wollte nur, dass du weißt«, sagte Hazel, »ich habe so ein Gefühl … Ich habe das Gefühl, dass dein Weg um einiges länger ist, als du glaubst.«
Rosanna stand in der Tür und sah Hazel an. Ihre Augen glitzerten, und sie sah aus, als wolle sie etwas sagen, doch stattdessen nickte sie nur und hob die Hand zu einem Winken, bevor sie leise die Tür schloss.
Hazel holte tief Luft und drehte sich zur Wand und den Fotografien. Jetzt erst bemerkte sie einen losen Stoß Fotos auf dem Schreibtisch, und sie beugte sich vor, um sie durchzusehen. Es waren diejenigen, die Rosanna nicht ausgesucht hatte. All ihre mühseligen Versuche, Porträtfotos oder schöne Landschaftsaufnahmen zu machen.
Keines davon hatte Rosanna ausgesucht. Hazel blickte wieder auf die montierten Fotos. Es waren alles Alltagsschnappschüsse. Jaimes Schnürsenkel, damals auf der Fähre, als sie von der Klinik zurückkamen. Lukes Finger um das Seil. Der Haifischzahn in Jaimes offener Hand. Kleine Dinge, wie Rosanna gesagt hatte, aber sehr pointiert.
Hazel hatte so viel Zeit damit verbracht, wie andere sein zu wollen, dabei hatte sie gar nicht gemerkt, dass sie schon längst ihren eigenen Stil hatte.
Sie dachte zurück an ihren letzten Tag in San Francisco. Das Foto, das sie von den Buchrücken am Straßenrand gemacht hatte. Plötzlich fiel ihr Jasper ein. Sie sah sein Gesicht, als er ihr Foto bewunderte. Sie erinnerte sich, was er über Miss Lew gesagt hatte. Jasper und Miss Lew hatten von Anfang an an sie geglaubt. Hazel hatte nur selbst nicht an sich geglaubt.
Sie blickte auf den Stoß der nicht berücksichtigten Fotos. Die Landschaften waren wunderschön, aber es waren nicht ihre. Sie erzählten nicht ihre Geschichte, wie
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