Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
sie.
Wenn sie Zeit hat, beguckt sie sich etwas von dem, was in Gastons Baedecker an Sehenswürdigkeiten genannt ist. Natürlich ist es beeindruckend. Eine Stadt, die denn doch ein paar hundert Jahre älter ist als ihr Berlin, die zu einer Zeit, als wahrscheinlich auf dem märkischen Sand von den Kurfürsten gerade mit Bauenbegonnen wurde, bereits voll war mit Palästen. Eine Stadt, die gewachsen ist wie eine Pflanze. Und natürlich ist die Pracht dieses imperialen Wien zu bewundern. Manchmal kommt sie sich angesichts einer vollkommenen Reihe barocker Stadtpaläste oder der weiträumigen Parks wirklich klein und sogar – nun ja – ein bisschen provinziell vor. Aber Berlin hat was anderes, findet sie. Tempo und Wachheit statt Schlendrian. Ecken und Kanten, wo hier (nicht nur in der Architektur!) sanfte Rundungen sind. Aber vielleicht ist sie auch nur noch nicht so recht »angekommen«. Ihr Hauptweg führt sie ja immer noch zur »Burg«, in Felices’ Vorstellungen, die sie mit wachsend kritischen Blicken betrachtet.
Wenn sie danach nach Haus kommt, brennt im Palais meist kein Licht mehr, außer in den Räumen, die für sie nicht zugänglich sind. –
Es muss an dieser Stadt liegen, dass ich nicht träumen kann.
Seit ich den Anbau von Felices Stadtpalais bezogen habe, schlafe ich traumlos, nichts Gutes und nichts Schlechtes widerfährt mir in meinen Nächten. Es kommt mir vor, als wäre dies Wien eine Glasglocke, die sich über mich gestülpt hat und mich abschirmt gegen alles, was nicht mit der platten Realität zu tun hat. Keine Träume, nichts Mystisches. Und dass ich jemals so etwas wie Visionen gehabt habe, kommt mir jetzt fast unwirklich vor, so als würde ich es in einem Buch über eine fremde Person lesen.
Nicht dass ich diesen beängstigenden Zuständen nachtrauere. Aber der Süße und dem Schmerz meiner verlorenen Liebe würde ich gern Raum gönnen in meinem Kopf und meinem Herzen, wenn ich vom Wachsein in den Schlaf hinübergleite. Doch diesen Zustand, dies Zwischenreich gibt’s hier nicht. Entweder ich liege hellwach da und grübele oder ich versinke gleich in ein Dunkel ohne jedes Bewusstsein. – Und das verdirbt mir die Laune am Tag, macht mich reizbar und mürrisch. Meine Lust, die Stadt für mich zu erobern – wenigstens für die nächsten paar Monate –, lässt langsam wieder nach.
Den Baedeker Gastons habe ich erst einmal weggelegt. Da ist mir nun zu viel von imperialem Barock auf der einen Seite und volkstümlicher Belustigung auf der anderen die Rede.
Von fern sehe ich von vielen Stellen aus das Riesenrad im Prater, dem Vergnügungspark jenseits der Donau, ein monströses Ve hikel jener besagten »volkstümlichen Belustigung«, wie einen gewaltigen Kinderreifen. Aber bis dorthin bin ich noch nicht gelangt. Ziellos laufe ich jetzt durch die Straßen, komme nicht über den Donaukanal im Osten und die Bahngleise im Westen hinaus. Ich dreh mich im Kreis.
Fürs Josefstädter Theater, für eine Inszenierung des großen Magiers Max Reinhardt, habe ich noch keine Zeit gehabt – obwohl, was tue ich eigentlich?
Ich trete auf der Stelle. Dabei bin ich unruhig wie vor einem Sturm und unzufrieden mit mir selbst.
Doch dann habe ich ein Erlebnis, das mich – so makaber es klingen mag – wieder in meine »Richtung« lenkt. Es erschreckt mich mehr, als es vielleicht nötig wäre. In einer der Gassen des 6. Bezirks, Mariahilf, nicht weit vom Westbahnhof, wo ich seinerzeit angekommen bin in der Stadt, gehe ich einem Kindergeschrei nach – einem, das mich beunruhigt. Ich kann schließlich, sozusagen »von Berufs wegen«, einordnen, welche Gefühle menschliche Stimmen ausdrücken. Und dies hier klingt zwar fröhlich und ausgelassen, aber ihm ist ein Unterton von Hohn beigemischt, der mir nicht gefällt. Ich will wissen, was das ist. Also biege ich in die Gasse ein, aus der das Geschrei kommt.
Ein paar kleine Jungen, sicher nicht älter als zehn Jahre, umtanzen wie die Indianer den Marterpfahl einen Laternenmast, an dem ein Mann in langem dunklem Mantel lehnt. Als ich näher komme, verstehe ich auch die Worte, die sie ihrem Hohngeschrei beimischen: »Jiddel mit dem Binkel, scher dich fort und pinkel!«
Ich stehe einen Augenblick wie angewurzelt. Dann schießt mir das Blut durch den Körper; von der Narbe an meinem Kopf (der Sturz von der »Felsenbühne«) geht plötzlich ein stechenderSchmerz aus, als hätte mich etwas gebissen. Ich greife mit einer Hand danach, wie um etwas zu verjagen, und hole
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