Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
›unbeleckt‹. Natürlich ist das alles noch keine große Kunst, aber sie ist verdammt begabt. Nicht dass ich ihr das sagen würde – beileibe nicht. Zu viel Lob verdirbt einen Schüler. Aber ich frage mich, woher sie die Tiefe holt, die sie der Figur gibt. Sicher, sie wird in Berlin viel gutes Theater gesehen haben ... Trotzdem. Sie kann eine Rolle aufbauen. Sie wirkt auf mich irgendwie – professionell. Sie sagt, sie habe schon Vorstellungen gespielt, wahrscheinlich irgendein Laientheater. Trotzdem: Wo hat sie das her?«
»Frag sie doch.«
Felice schüttelt den Kopf. »Ich werde mich hüten. Später vielleicht einmal. Jetzt will ich nicht allzu viel von ihr wissen. Das würde mich nur bei dem stören, was ich gerade mache: sozusagen noch einmal alles auf null zu drehen und von vorn mit ihr anzufangen. Denk dran: Wir müssen sie uns möglichst lange erhalten.«
»Unser Goldeselchen.«
»Sei nicht so frech, Flusch. Das Mädchen ist meine Verwandte.« Sie kräuselt die Lippen. »Ich mag sie.«
»Du magst sie?« Anton zieht in gespieltem Erstaunen die Brauen hoch. »Na schön. Ohne sie könntest du zum Beispiel keine Soiree abhalten, stimmt’s? Deine letzte war vor acht Wochen. Oder ist es noch länger her? Vorigen Monat fiel sie aus wegen Ebbe in der Kasse.« Er hat wieder einmal sein schiefes Lächeln.
Die Schauspielerin sieht ihn einen Augenblick schweigend an und macht schmale Augen. »Dein Ton gefällt mir nicht!«, sagt sie scharf.
»Ach Fee, ich sag doch nur, was wahr ist.«
»Und?«, fragt sie dann unvermittelt. »Wie war’s mit dem Pygmalion-Spielen? Hast du sie beeindrucken können? Außer dass du ihr ein weißes Kleidchen und diverse Accessoires aufgeschwatzt hast? Was gab’s da noch?«
»Ich hab ihr das Palais Auersperg gezeigt«, erwidert er und sieht sie nicht an.
»Ach? Fragt sich, mit welchen Familiengeschichten du diese Präsentation gespickt hast. Ich kenne deinen Hang zum Phantastischen.«
Anton sagt nichts, und Felice fährt gnadenlos fort: »So ganz groß bist du wohl nicht in der Rolle des Pygmalion, wie?«
»Und du? Meinst du, deine spärlichen Abendmahlzeiten im Kaffeehaus und deine ständig gleichen kniefälligen Verehrer dort sind für die Tochter vom Koch was Überwältigendes?«
»Ich muss ihr nicht mit solchen Dingen imponieren. Das tu ich durch das, was ich auf der Bühne mache. Und wie ich mit ihr arbeite. Und außerdem werden wir die Soiree nutzen, wo hoffentlich das ganze schöngeistige Wien erscheinen wird.«
»Auf der Soiree, die sie finanziert.« Er grinst.
»Ach, halt den Mund, Flusch«, sagt sie zärtlich. »Schluss jetzt damit.«
Sie drückt die Zigarette in der Bernsteinschale aus, packt seinen Kopf mit beiden Händen und zieht ihn zu sich herab. »Komm noch ein bisschen her, lass uns unser Spiel spielen. Nenn mich Bichette, wie der Oktavian im Rosenkavalier zu seiner Liebsten, der Marschallin, sagt.«
Sie ist plötzlich ganz weich und hingebungsvoll. Er lächelt, beugt sich über sie.
»Wie Sie befiehlt, Bichette!«, zitiert er seine »Rolle«. »Ich weiß ja, was dann angesagt ist, wenn ich dich so nennen darf.«
Dann verstummen sie. –
In den Tagen, die bis zu dieser Soiree vergehen, hat Leonie wider Erwarten noch einmal Unterricht bei Felice – diesmal ohne dass jemand im dunklen Zuschauerraum sitzt. (Die Begutachtung scheint vorüber zu sein.) Sie erarbeiten nichts weiter als die erste Szene der Julia. »Du siehst, die Nacht verschleiert mein Gesicht ...«. Mal mit Korken im Mund, mal ohne. Manchmal benutzen sie Leonies Spielweise, die von der ersten Szene, die mädchenhaft Suchende, die schalkhaft Naive, manchmal gibt Felice Vorgaben, die ihre Schülerin am Text umsetzen muss. »Spiel mal, du kannst Romeo eigentlich nicht leiden und heuchelst das alles nur!«, »Spiel mal, die Julia ist ein elfjähriges Mädchen, das sich in einen älteren Mann verliebt hat!«, »Spiel mal, die Julia ist so alt wie ihre Mutter!«
Leonie merkt: Irgendetwas hat sich verändert. Felice hat offensichtlich Feuer gefangen. Sie bleibt nicht unten im Dunkeln sitzen, kommt mit auf die Bühne, macht vor, was sie meint, unterbricht, greift immer wieder ein. Das scheint ja langsam eine richtig vernünftige Arbeitsatmosphäre zu werden.
Schließlich, in einer Pause (sie sitzen beide verschwitzt an der Rampe und lassen die Beine baumeln, und natürlich muss Felice schon wieder ihre Lippen nachziehen) sagt sie: »Jessas, das macht ja richtig Spaß mit dir! Du kannst gut
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