Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Augenblick, wo sie das sagt und ihn immer noch umarmt hat, ist das nicht einmal eine Lüge.
»Ich mache dich ja ganz nass!«, sagt sie verlegen. »Dein guter Anzug! Du wolltest doch ausgehen!« (Vielleicht gewinnt sie ja noch ein bisschen Zeit, um sich auf seine Fragen vorzubereiten...)
»Die Kameraden müssen heute mal auf mich verzichten!«, erklärt er entschlossen. »Du musst doch erzählen. Komm, ich bring deinen Koffer zu dir rein. Dann ziehst du dich um und trocknest dein Haar, und dann!«
Während Lora um ihren Nacken herum auf die andere Seite klettert, zerrt der Vater ihr Gepäckstück durch die Küche zu dem Kabuff, in dem sie haust.
Sie beguckt sich heimlich von der Seite sein Gesicht. Jüdisch? Er hat dunkles, lockiges Haar wie ich, denkt sie, dunkle Augen, einen brünetten Teint wie ich. Reicht das aus? Ist das jüdisch? Sie fi ndet nur, er sieht sehr gut aus. Sie ist immer stolz auf ihren Vater gewesen,Harald Lasker, mit diesem Grübchen im Kinn und der energischen Nase und den schönen dichten Augenbrauen, der kraftvollen Statur...
Ihr »kleines Reich«. Man kann sich kaum darin umdrehen, Bett, Spind, Regal, Spiegel. Ein schmales Fenster. Ihr fallen das sonnendurchfl utete Gästezimmer auf Hermeneau ein, das breite Bett, die Badewanne mit den Löwenfüßen. Unwillkürlich muss sie aufgeseufzt haben.
»Irgendetwas stimmt nicht, oder?«, sagt der Vater und hält sie fest. Sie hätte am liebsten losgeheult.
»Doch«, erwidert sie und macht sich mit dem Versuch eines Lächelns los. »Doch, Papa. Alles ist in Ordnung.«
Dann zieht sie sich um, stopft ihre durchfeuchteten Schuhe mit zerknülltem Zeitungspapier aus, damit sie trocknen können, und gönnt sich noch eine kleine Pause, auf der Bettkante sitzend, bevor sie ins Wohnzimmer geht, wohin der Vater den Sittich mitgenommen hat.
3
Das kleine Wohnzimmer der Laskers ist voll gestopft mit Möbeln. Schließlich haben sie eine viel größere Wohnung aufgegeben, als sich herausstellte, dass Harald Laskers Arbeitslosigkeit wohl kein Problem war, das sich von heute auf morgen würde lösen lassen.
Das Büfett aus schwerem, dunklem Holz, der Tisch mit der gehäkelten Zierdecke, der verschlissene Teppich, die wuchtigen, leicht abgeschabten Postermöbel – das alles wirkt heute noch bedrückender auf Leonie als sonst schon immer. Jetzt, nach dieser Reise in eine andere Welt.
Der Vater hat Lora in den Käfi g gesteckt und diesen mit einem Tuch zugehängt, so hält der Vogel den Schnabel und stört Leonie nicht bei ihrer Erzählung.
Und sie beginnt. Aber alles, was sie berichtet von der Reise im Schlafwagen, von der südlichen Landschaft, von Bergen, Meer und Klippen, vom Ort Cerbère und dem Eisenbahnviadukt des Gustave Eiffel, von dem wunderschönen Schloss, den beiden alten Leuten und ihrer Gastfreundschaft, nimmt sich seltsam deplatziert aus in diesem Zimmer. Eigentlich will sie von dieser Nacht auf dem Bergplateau erzählen, von dem Essen unterm Sternenhimmel und den tanzenden Alten, aber es will ihr irgendwie nicht über die Lippen.
Hört der Vater überhaupt richtig zu? Sie hat nicht das Gefühl, dass er sich mit ihr freut oder staunt über das, was sie erlebt hat. Er sieht vor sich hin.
Dann nickt er, als hätte sich bestätigt, was er erwartet hat.
»So leben sie also in Saus und Braus, die Sieger!«, sagt er bitter. »Und wir, wir geraten immer tiefer ins Elend. Jeden Tag wachen wir auf und unser Geld ist schon wieder weniger wert.« Er fasstnach der Hand seiner Tochter. »Sag mir die Wahrheit, Mädchen: Hast du Feindseligkeit erlebt?«
»Überhaupt nicht, Papa!«, widerspricht Leonie und schiebt das Erlebnis mit Clémence weg. »Alle waren höfl ich und freundlich zu mir, auch wenn Gaston mich als seine Verwandte aus Berlin vorgestellt hat.«
Harald Lasker scheint gar nicht richtig hinzuhören. »Es ist unfassbar, wie dieses Volk an unserem Elend profi tiert, wie sie sich aufführen, diese Gewinner. Nur von den Reparationen, die wir zah len, geht es denen so gut. Es war falsch, dich da hinzulassen, Leonie. Ja, ich glaube, es war falsch.«
»Aber Papa! Der Onkel ist doch viel zu alt, er hat doch nicht mitgekämpft in diesem Krieg!«, sagt sie, obwohl sie ja eigentlich weiß, dass ihr sonst so verständnisvoller und vernünftiger Vater einfach rotsieht, wenn es um den Feind Frankreich und die Misere der Deutschen geht. Aber es macht sie traurig, dass er alles, was sie erlebt hat, nur über einen Kamm schert.
»Der Onkel!« Er schüttelt
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