Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
fast so aus«, sagt er. Es klingt gleichmütig.
»Und wer ist der andere neben ihm? Hatte Großvater einen Zwillingsbruder?«
»Ich hab mal so etwas gehört«, erwidert Harald Lasker vage. »Aber der ist wohl in jungen Jahren verstorben. Mein Vater hat nie über ihn geredet.«
In jungen Jahren? Aber die beiden auf dem Foto sind doch bestimmt schon vierzehn, fünfzehn ...
»Papa«, sagt Leonie. »Also, die waren noch jüdisch, nicht wahr? Alle beide! Auf dem Bild tragen sie Käppchen und Schläfenlocken!«
Die Hand ihres Vaters schießt über den Tisch. Er schlägt das Album mit einem lauten Knall zu, dass Lora, die noch immer auf Leonies Schulter sitzt, erschrocken die Flügel ausbreitet und sich aufplustert.
»Leonie, lass mich in Frieden!«, sagt er, und sie sieht, dass sein Wangenmuskel wieder zuckt. »Du hättest das alte Ding nicht vor- kramen sollen. Es gehört wirklich nur auf den Müll.«
»Aber sind es nicht irgendjemandes Erinnerungen?«
»Manche Erinnerungen sollte man lieber vergessen«, entgegnet er, ohne sie anzusehen.
Liebend gern hätte sie noch gefragt, ob ihm der Name Laskarow etwas sagt. Aber die Stimmung ist nicht danach.
Harald Lasker stellt seine Gewürzdosen wieder ins Regal. »Zeit fürs Mittagessen«, sagt er ablenkend und öffnet mit einem Seufzer das Küchenbüfett. »Zwiebeln«, murmelt er, »Knoblauch, Kreuzkümmel, Senf, ein paar Möhren – für eine Linsensuppe nach Art des Hauses reicht’s wohl noch. Vielleicht ist noch ein bisschen Pfl aumenmus im Glas? Hab die Linsen gestern Abend eingeweicht. Hilfst du mir, Schätzchen?«
Leonie nickt, stellt die Zutaten hin, das »Mise en place«, übernimmt die Hilfsarbeiten. Der Vater kocht, die Stimmung ist dementsprechend entspannt.
Während sie ein paar Zwiebeln in den Topf tut, sagt Lasker, der Möhren mit professionellem Tempo winzig klein schneidet: »Nimm mal lieber das Leinenzeug da weg, sonst kriegt es noch einen Spritzer.« Leonie greift den Wäschestapel und legt ihn nach oben aufs Küchenbüfett, entfernt vom Herd.
»Ich bring es gleich heute Nachmittag noch zur Kommissionshändlerin«, sagt sie. »Und vielleicht kann ich auch schon mal eine Runde bei den Theatern machen, wegen einer Stelle. Es ist zwar noch Spielpause, aber die Gewerke von ein paar Bühnen arbeiten vielleicht schon für die neuen Inszenierungen im Herbst. Vielleicht finde ich ja etwas in einer Schneiderei oder bei der Requisite. Dann kommt ein bisschen Geld ins Haus.«
»Gut«, brummt der Vater. »Dann bring das Zeug weg.« Er blickt auf die Wäsche. »Aber wenn ich mir vorstelle, dass irgend so eine fette Madame vom feinen Westend, so eine jiddische Frau Raffke Mutters schöne handgestickte Tischtücher mit ihrem Sabbatrotwein vollkleckert, dann könnte ich die Wände hochgehen!«
Leonie muss tief Luft holen. Sabbatrotwein. Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, der du die Frucht des Weinstocks aus der Erde hervorbringst. Hieß es so, da in Hermeneau? Eigentlich will sie etwas sagen, aber sie weiß nicht, was, und ihr Vater ist gerade sehr vertieft in seine Arbeit, denn er summt vor sich hin.
Es ist die Melodie von »Avram avinu«, dem Lied, nach dem die beiden alten Leute getanzt haben.
Plötzlich hört er auf, runzelt die Stirn. Es kommt Leonie so vor, als wenn ihm dämmert, dass er da vielleicht ein jüdisches Lied singt...
»Ich bring die Wäsche lieber mal ins Zimmer, ehe ihr hier etwas zustößt, Fettfl ecke oder so!«, sagt Leonie eilig. Es ist das erste Mal, dass sie es abbricht, mit ihrem Vater zusammen zu kochen.
Lora auf dem Finger der Rechten, das Leinen unter den linken Arm geklemmt, geht sie fluchtartig aus der Küche.
Sie hat nun ein Ziel: Die Grenadierstraße. Ob es Laskarows deutsch-jüdisches Künstler-Theater wohl noch gibt? Immerhin ist es dreizehn Jahre her, seit diese Karte gedruckt wurde …
6
Der Regen hat zwar aufgehört, aber grau ist Berlin immer noch. Eine undurchsichtige Wolkendecke hängt über der Stadt.
Bevor sie sich auf die Suche nach dem Theater macht, muss Leonie das Leinen ihrer Mutter mitsamt den silbernen Serviettenringen fortbringen. Sie hat alles in eine Tasche getan, sorgfältig ein geschlagen in einen großen Bogen Seidenpapier. Die Kommissions händlerin, zu der sie ihre Schätze trägt, ist immer dieselbe, die kennt sie schon: eine ältliche Frau mit Haarknoten und Brille in einem dunklen, wenig übersichtlichen Laden, in dem man alles aus zweiter Hand kaufen kann, was nicht niet- und nagelfest
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