Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
den Händen, betreten die Bühne und fangen an zu singen.
Also, das ist dann wohl so etwas wie ein Melodram. Darauf war Leonie nicht vorbereitet. Nichts davon stand auf dem Plakat, das sie gestern gesehen hat.
Sie lauscht angestrengt und versucht, dahinterzukommen, worum es geht. Soweit sie dem Liedtext folgen kann, ist man auf der Reisenach Jerusalem, das hier auch Zion genannt wird, um dort ein Opfer zu bringen. Nun gut, wer versteht schon den Text, wenn gesungen wird. Obwohl das hier im Raum anders zu sein scheint. Entweder man war schon unzählige Male in diesem Stück oder man kennt das Lied von woanders her, denn bei der zweiten Strophe beginnt der halbe Saal mitzusingen. Leonie beißt sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen, aber begleitet wie die anderen den Abgang des »Chors« mit Applaus.
Auf der Bühne bleiben zwei Darsteller zurück: eine zierliche junge Frau in einem mit Silberpailletten bestickten Gewand, die extrem schmale Taille mit einer großen Schärpe gegürtet, offenes Haar bis auf die Schultern, und ein Mann, dessen Schuhe und Kleid, dessen Bart und Perücke Leonie gestern bei ihrem unerlaubten Blick in die Garderobe gesehen hat. M. Laskarow als dieser Menoah, Bürger von Bethlehem. Das ist also ihr Onkel.
Leise steht Leonie auf und lehnt sich gegen den Sitz ihres Klappstuhls, um besser sehen zu können. (Vor Aufregung hat sie einen trockenen Mund.) Aber es lohnt nicht, denn Menoah hat nur einen kurzen Dialog mit dem Mädchen Sulamith, das wohl seine Tochter ist, und auch jetzt versteht sie so gut wie nichts. Er geht ab, und schon wieder setzt das Klavier ein, und die Darstellerin gibt pantomimisch eine Wanderung, nach Jerusalem eben, die immer beschwerlicher wird (das macht sie ganz gut, findet Leonie), und sinkt dann ermattet zu Boden, um einen Monolog zu sprechen, aus dem hervorgeht, dass sie sich verirrt hat, dass es heiß ist und sie durstig ist. Hinter ihr steht der »Brunnen«. Das alles in holprigen Versen.
Im Zuschauerraum könnte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Nichts mehr von dem lebhaften Hin und Her vor Beginn. Gespannteste Stille.
Es kommt natürlich, wie es kommen muss. Sulamith »entdeckt« die Wasserstelle. Und: »Ha, was sehe ich, kein Eimer, bloß ein Strick/ O, einen schönen Spaß spielt mit mir das Glück.«
Leonie verkneift sich nur mit Mühe das Lachen, als die kindlich dünne Darstellerin sich den Strick um den Leib bindet und sich anschickt, in den Brunnen zu steigen, aber der halbe Saal, nun wiedererwacht, ruft: »Nein, Sulamith, tu’s nicht! Tu’s nicht!«, als wäre man im Kaspertheater.
(Natürlich tut sie’s doch. War ja zu erwarten.)
Oh Gott, was für eine Klamotte! Da ist sie nun wirklich anderes gewohnt. Ein bisschen mehr Niveau hatte sie sich von ihren Verwandten doch erwartet.
Langsam fängt Leonie an, sich zu ärgern. Das Familientheater der Laskarows entwickelt sich zu einer herben Enttäuschung.
Aber dann passiert es.
Ohne Rücksicht auf jedwede Wahrscheinlichkeit teilen sich auf einmal die gemalten Berge des Hintergrundprospekts. Und auf tritt aus der Mitte, auf seinen Schuhen mit den erhöhten Absätzen, das Theaterschwert im Gürtel, den Blechreif im Haar, Abisalom, ein junger Held, gefolgt von einem schwarz angemalten Diener. Der Held geht mit den Schritten eines jungen Tigers vor bis an die Rampe.
Leonie scheint es, als würde der ganze Saal geräuschvoll einatmen und dann die Luft anhalten – und sie mit. Abisalom, nein, Schlomo Laskarow, stützt die Hand in die Hüfte, reckt den Hals, wirft einen kurzen Rundblick über sein Publikum hin (ein Herrscher, der seine Untertanen begrüßt) und öffnet den Mund zu einem halben Lächeln. Dann erst wird er zu Abisalom und wendet sich an seinen Diener, um ihm mitzuteilen, dass sie hier rasten werden.
Der Diener hat nun die Gelegenheit, durch ein paar grobe Scherze und Clownsnummern die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken, wobei er denkbar schlechte Karten hat, denn sowie sein Herr, die Nummer eins auf der Szene, auch nur die kleinste Bewegung macht (den Kopf zur Seite dreht, mit geschmeidiger Anmut an dem Brunnen Platz nimmt, den Arm über den Rand dieser Requisite gelehnt), guckt alles nur zu ihm. Und auf einmal ist das auch keine dumme kaschierte Tonne mehr, sondern eben ein Brunnen, und ein junger Held macht daran Rast, zwar erschöpft von der Wanderung, aber durchaus noch zu Taten bereit.
Und dann beginnt er einen Monolog, in dem irgendein banales Zeug
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