Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
über die Beschwerden der Reise in ungelenken Worten erläutert wird – dies aber mit einer Stimme, so weich und so metallisch wie die des großen Winterstein oder Bassermann vom Schauspielhaus, und mit Gesten, die ...
Leonie versucht mit Gewalt, sich der Verzauberung zu erwehren. Was in aller Welt macht er, das anders ist, als ein durchschnittlich guter Mime es macht? Die Art, wie er den Arm ausstreckt, wie er die Faust dreht, wie er sich aufrichtet, als müsse er gegen einen Widerstand ankämpfen: Er zwingt auf irgendeine Weise die Zuschauer, sich um seinen Körper zu kümmern, an seinen Bewegungen Anteil zu nehmen. So etwas hat sie noch nicht gesehen – dass jemand so in seiner Figur aufgeht und trotzdem er selbst bleibt.
Und dann setzt wieder das scheppernde Klavier ein und er singt. Leonie hat keine Ahnung, was das Lied mit dem Stück zu tun hat, es ist ein Schlafl ied auf ein jüdisches Söhnchen und durchsetzt mit Worten, die sie in ihrem Leben noch nicht gehört hat und kaum versteht, aber das ist völlig egal. Diese Stimme, unverbildet, klar, den verschlungenen Linien von Melodien folgend, die mindestens so exotisch klingen wie orientalische Musik – alles ganz rein, ganz ohne Ziererei. Leonie spürt, dass sie mit den Tränen kämpft.
Als das Lied zu Ende ist, wartet sie eigentlich auf den Applaus des Hauses, hält schon die Hände in Bereitschaft. Aber es geschieht etwas ganz anderes. Dies Publikum »schnurrt«. Sie hat davon gelesen in Büchern über große Aufführungen, dass es so etwas gibt. Es ist, als hätten die Leute hier, die vorhin beim Auftritt des Helden einatmeten, die Luft angehalten bis jetzt und atmeten nun alle gemeinsam aus, in einem einzigen raunenden Luftstrom. Und für den Bruchteil eines Augenblicks tritt Schlomo Laskarow aus der Figur des Abisalom heraus und belohnt »seine« Zuschauer mit jenem halben Lächeln, bei dem das Grübchen in seiner Wange erscheint.
Dann geht es weiter. Im Stück folgt eine Plattheit der anderen.
Sulamith schreit im Brunnen und wird gerettet, man verliebt sich auf der Stelle und gelobt sich ewige Treue, aber Abisalom mussfort. Man verliert sich aus den Augen, der Held nimmt zunächst eine andere (eine nette, etwas rundliche Schauspielerin mit großen grünen Katzenaugen), Sulamith wird wahnsinnig oder vielmehr, sie spielt es, um sich nicht verheiraten zu müssen – doch Abisalom, der junge Held, kommt nach Irrungen und Wirrungen schließlich zurück. Hochzeit. Schluss.
Und das alles in einem Saal voller Leute, die vor Begeisterung hin und weg sind, vor einem Publikum, wie Leonie es noch nie erlebt hat. Ein Publikum, das schreit, dazwischenruft, den Figuren Anweisungen gibt, buht, wenn einer was macht, was in den Augen der da unten »falsch« ist, frenetisch tobt, wenn alles »richtig ist«. Frauen, die vor Rührung laut schluchzen, Männer, die sich begeistert auf die Schultern schlagen. Und Beifall, Beifall, Beifall.
Leonie verlässt als eine der Letzten das Haus in der Sophienstraße. Sie ist nach dem Schlussapplaus einfach noch im Saal sitzen geblieben, hat versucht, sich zu sammeln.
Das ist mein Vetter, mein Cousin. Schlomo Laskarow. Muss Schuhe mit Absätzen tragen und seine Partnerin neben ihm ganz flache Sandalen, damit sie nicht größer ist als er. Gütiger Himmel. Der war bestimmt auf keiner Schauspielschule. Der macht es einfach. Ob ich jemals im Leben so Theater spielen werde wie er? Der spielt in einem unsäglichen Stück, der spielt »jiddisches Schmierentheater«, von dem mein Vater geredet hat. Zugegeben, die anderen waren auch alle ganz gut, vor allem M. Minas, die Sulamith. Aber er?
Und Leonie merkt, als sie in die Nacht hinausgeht, dass sie ihren Vetter Schlomo Laskarow glühend beneidet um seine Kunst und um die Möglichkeit, sie auszuüben. Und außerdem lässt es sich ja nun wohl nicht mehr verbergen, dass sie sich verliebt hat.
In einen Schauspieler. Der, wie es aussieht, zehn Mädchen an jedem Finger hat.
10
Harald Lasker fragt bereits am nächsten Tag nach dem fehlenden Mehl.
Ausgerechnet heute kommt er auf die Idee, Omeletts zu Mittag zu machen.
»Was ist denn hier los?«, fragt er Leonie, die gedankenverloren mit dem Abwasch beschäftigt ist und einen Teller bereits zum dritten Mal in die Seifenlauge eintaucht. Und er hält ihr die geöffnete Dose hin.
»Ich wollte Buchteln machen und die sind mir misslungen«, sagt Leonie schnell und weiß schon, dass sie damit nicht durchkommt.
Der Vater zieht die Augenbrauen
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