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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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beobachtet ihn schweigend; zögernd legt er dem Rekruten erneut die Hand auf den Hals und streichelt ihn fast automatisch, als könnte er ihn so schneller aus dem Auto treiben. Einen Moment lang hält Andrej im Zählen der Scheine inne und hebt den Kopf. Sie sehen einander an. Am liebsten würde er zu dem Mann das Gleiche sagen, was die gebrochene Frau in der Metro zu ihm gesagt hätte, wenn er ihr die Gelegenheit gegeben hätte, den Mund aufzumachen – weshalb er gar nicht wissen kann, was es war. Er sagt nichts. Das Gesicht des Reserveoffiziers bleibt im Halbdunkel. Jetzt kennt Andrej ihn. Nicht einmal die Zähne kann er sehen. Er nimmt nur den unangenehmen, säuerlichen Atem wahr. Er steigt aus, schlägt die Tür zu, und während er hinterhersieht, wie der Wagen abfährt, werden ihm die Knie weich. In diesem Moment, unweit vom Wosstanja-Platz, als er trotz der Anweisung des Feldwebels (im Krieg darf man sich keine Blöße geben) kurz etwas geistesabwesend dasteht, taucht von irgendwo aus der Dunkelheit etwas auf und reißt ihm wie ein Windstoß die Geldscheine aus der Hand. Es passiert alles so schnell, dass er kaum Zeit hat, hinzusehen, zu verstehen oder nachzudenken. Ehe er sich besinnt, läuft er schon hinter einer Gestalt her. Schreien darf er nicht, weil er sonst die Polizei auf sich aufmerksam machen würde. Schon dass er jemanden verfolgt, ist verdächtig. Er läuft hinter der Gestalt durch die Straßen, hört seinen eigenen Atem und spürt das Blut in den Schläfen pochen. Um diese Uhrzeit, noch dazu zwischen zwei Zügen, ist nur wenig vom Tageslärm übrig. Die nächste Welle von Zugreisenden hat noch nicht den Platz überschwemmt, um mit Taxis und Bussen weiterzufahren oder in die Metro zu steigen. Alles ist relativ ruhig, weshalb die beiden umso mehr auffallen. Diese Stadt ist riskanter als jede andere, sie wurde so erbaut, dass die Ordnungskräfte den besten Überblick haben. Nach und nach wird das Echo der eigenen Schritte, das Herzklopfen und der keuchende Atem von der Sirene eines Polizeiwagens übertönt. Der vor Andrej rennende Dieb biegt nach rechts in einen schmalen Torweg ein, als die Sirene näher kommt und er nichts anderes mehr hören kann – kein Echo seiner Schritte, kein Herzklopfen und keinen keuchenden Atem. Nun folgt ein Labyrinth aus Innenhöfen und Verbindungsgängen zwischen heruntergekommenen Häusern. Der dunkle Torweg führt in den ersten Innenhof, und von dort führen weitere Durchgänge in den nächsten und den übernächsten. Andrej kann die Gestalten kaum sehen, die gelegentlich geräuschlos im Halbdunkel im Hintergrund auftauchen und ebenso geräuschlos, wie eine Geisterbruderschaft, in den dunklen Haustüren verschwinden. Auf den Wänden stehen Graffiti, doch sie zu lesen hat er keine Zeit. Buchstaben, die nichts bedeuten, wie ein fremdes Alphabet. In den Innenhöfen herrscht ein eigenes, nicht wahrnehmbares Leben, im Gegensatz zu dem wenigen, was noch von dem hektischen Betrieb tagsüber rund um den Bahnhof übrig ist. Es gibt Schatten ohne Menschen. Nicht von ungefähr hat der Dieb diesen Weg genommen. Hier ist alles inkognito. Andrej bleibt ihm auf den Fersen. Er biegt nach links ab, vorbei an halb kaputten Rutschen und Wippen, auf die schon bald der Mond scheinen wird, der gerade kurz zwischen den Wolken herauskommt und dann wieder verschwindet, läuft dann nach rechts, drei Stufen hinunter, drei Stufen hinauf, quer über einen Innenhof und in einen weiteren Torweg, der in eine Sackgasse mündet, wo es offenbar keine Menschenseele mehr gibt. Er keucht schwer. Sucht in der Dunkelheit nach einer Wand, um sich abzustützen. Findet keine und sackt zusammen. Er legt die Hände auf die vor Erschöpfung eingeknickten Knie, und in diesem Augenblick zerrt ihn jemand mit Gewalt in die Finsternis. So schnell, dass er sich nicht wehren kann. Man hat ihn an der Kehle gepackt, er bekommt kaum Luft. Jemand hält ihm mit der Hand den Mund zu. Und dicht am Ohr flüstert ihm eine Stimme eine Warnung oder einen Rat zu, so als hätte der Besitzer dieser Stimme in den wenigen Minuten, seit er Andrej aus dem Auto des Offiziers hat aussteigen sehen und lautlos von ihm verfolgt wurde, bereits erkennen können, dass sie mehr gemeinsam haben, als sie sich vorstellen konnten – und viel zu verlieren: Die Stimme beschwört den Rekruten stillzuhalten, wenn er nicht auch verhaftet werden will. Und kaum hat er diesen Satz gehört, erscheint ein Polizist mit einer Taschenlampe in der Sackgasse. Die

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