Dreihundert Brücken - Roman
und klopft an die Scheibe. Im Inneren ist nichts zu erkennen. Der Fahrer öffnet die Tür, Andrej steigt ein. Im Halbdunkel sieht er nicht viel von dem Mann mittleren Alters, der sofort losfährt, nachdem Andrej die Tür zugezogen hat. Er trägt ein Wollsakko. Andrej hat den Eindruck, er habe seine Stimme schon in der Kaserne gehört.
»Feldwebel Krassin hat mir deinen Namen genannt, Rekrut, aber ich habe ihn vergessen.«
Andrej zögert, dann sagt er: »Andrej.«
»Den Nachnamen.«
Andrej will ablenken, er stammelt: »Haben Sie das Geld mitgebracht?«
Der Offizier der Reserve überhört die Frage und hakt nach. Das ist Teil der Einschüchterung. Im Grunde ist er selbst befangen.
»Es war ein merkwürdiger Name.«
Andrej ist schon genügend gedemütigt. Er will nicht glauben, dass er auch noch seinen Namen nennen muss.
»Du sprichst mit einem Offizier, Rekrut. Also, wie lautet dein Name?«
»Guerra, Andrej Alexandrowitsch.«
»Guerra«, wiederholt der Offizier und lacht. »Das war’s. Was für ein Name ist das?«
»Ich weiß nicht.«
»Kein russischer.«
Andrej antwortet nicht. Der Offizier wiederholt die Frage.
»Bist du kein Russe?«
Andrej fasst all seinen Mut zusammen und erwidert: »Wäre ich dann beim russischen Militär?«
Der Offizier hört nicht zu, er konzentriert sich auf die Straße.
»Feldwebel Krassin hat ja wohl alles erklärt, so dass du Bescheid weißt.«
»Haben Sie das Geld dabei?«
»Nachher.«
Andrej wird immer verkrampfter. Er weiß, dass nicht er die Spielregeln bestimmt, aber er weigert sich, die Rolle zu spielen, die man ihm zuweist. Er hakt nach: »Erst das Geld. Der Feldwebel hat gesagt, ich müsse es vorher bekommen.«
Der Mann lacht wieder.
»Wovor hat Feldwebel Krassin Angst? Dass ich nicht zahle? Oder vertraut er nicht auf das Material, das er mir heute geschickt hat? Und was meinst du, Rekrut? Glaubst du, ich habe Gründe, nicht zufrieden zu sein?«
Andrej ist wie gelähmt.
Der Mann sieht ihn an, lächelt und fasst ihm ans Knie. Er betastet das Gelenk. Andrej wehrt ihn ab und sagt wieder, wenn auch nicht sehr überzeugt: »Das Geld.«
Der Mann lacht abermals. Seit Andrej ins Auto gestiegen ist, sind die Zähne das Einzige, was er im Dunkel von dem Fahrer erkennen kann. Er traut sich nicht, zu ihm hinüberzusehen, wenn die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos ihn beleuchten. Es ist ihm lieber, ihn nicht zu sehen. Er heftet den Blick fest auf die Straßen vor ihnen.
»Ich habe immer mein Wort gehalten. Der Feldwebel kennt mich.« Der Offizier streckt den Arm aus und streichelt Andrej im Nacken. Bei der Berührung der schwieligen Finger zuckt Andrej zusammen. Er hat den Eindruck, dass sie gerade den Fluss passiert haben und aus der Stadt hin ausfahren.
»War das nicht die Newa?«, fragt er ängstlich mit einem Blick zurück, aber der Fahrer antwortet nicht.
Der Reserveoffizier zeigt auf die Kapuze, bevor Andrej aus dem Auto aussteigt, das zwei Stunden später an derselben Bushaltestelle hält, an der sie sich getroffen haben. Dabei geht es ihm weniger um das Wohl des Jungen als um eine Vorsichtsmaßnahme zur eigenen Sicherheit. Man soll kei nen Rekruten aus seinem Auto aussteigen sehen. Er hat keine Lust mehr, ihn zu berühren. Er greift nach der Brieftasche innen im Jackett und gibt dem Rekruten das Geld. Doch bevor er die Scheine loslässt, hält er die Hand des Jungen fest. Und das tut er weniger aus Begierde als aus dem Wunsch, die Hierarchie und die Demütigung zu bekräftigen. Andrej spürt, wie die schwieligen Finger den Rücken seiner Hand streicheln, mit der er das Geld entgegennimmt, und zieht die Hand mit einem Ruck weg. Er hat die Autotür schon geöffnet und hält sie kurz halb offen, bevor er aussteigt. Er schaut hinaus, als liefe er Gefahr, in flagranti erwischt zu werden, und als wären die Liebkosungen dieses Mannes ein Beweis für sein eigenes Verlangen nach anderen Männern. Er braucht sich nicht mehr darum zu bemühen, sich nichts vorzustellen. Er ist gebrochen, wie die Frau in der Metro. Er hat das Gefühl, sein Haar ist so zerzaust wie bei ihr, obwohl er seit fast einem Jahr kahl rasiert ist. Die Augen brennen ihm, und die Lippen fühlen sich verschmiert, wie zusammengenäht und wundgescheuert an. Er zieht die Kapuze über den Kopf. Dollar ist er nicht gewohnt. Bevor er aussteigt, zählt er nach – oder tut so, als ob; er ist nervös, kann die Scheine nicht richtig sehen, und die Dunkelheit hilft auch nicht gerade. Der Offizier
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