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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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dahin zurück?« Andrej reagiert mit verhaltener Wut, die verrät, wie verärgert er ist.
    »In meiner Stadt sind es die Kinder, die klauen, betteln und sich verkaufen. Ich will nirgendwohin zurück. Ich will nur weg von hier.«
    »Wohin?«
    »Keine Ahnung. Egal. Weit weg von hier, raus aus diesem Land.«
    »Und warum gehst du dann nicht?«
    »Ich habe das Geld noch nicht zusammen. Ich will mir einen Pass kaufen. Falls ich es nicht vorher schaffe, einen echten zu klauen. Mit ein bisschen Glück kann ich vielleicht eines Tages einem Touristen den Pass klauen.«
    »Wenn du keinen Pass hättest, wärst du nicht bis hierher gekommen. Du musst einen Pass haben.«
    »Den haben sie mir abgenommen.«
    »Wer, sie?«
    »Wer dir was gibt, nimmt dir auch was weg. Derjenige, der mich hierher in die Stadt gebracht und mir eine Arbeit verschafft hat, hat meinen Pass einbehalten. Damit ich nicht weg kann.«
    »Und wenn sie dich einsperren?«
    »Ich sitze schon fest.«
    »Kannst du sie nicht anzeigen?«
    Der Dieb grinst.
    »Du willst es nicht kapieren, oder? Hier ist keiner unschuldig. Je nachdem, weshalb man mich einsperrt, können sie mich auch wieder rausholen. Wenn ich zum Beispiel eingesperrt werde, weil ich keine Papiere habe. Sie haben Beziehungen. Die Stadt braucht billige Arbeiter für die Dreihundertjahrfeiern. Ohne Häftlinge wäre hier nichts gebaut worden.«
    Wieder zögert Andrej.
    »Ich warte auch auf einen Pass, damit ich hier raus kann.«
    Der Dieb legt Andrej eine Hand auf den Mund. Draußen sind Schritte zu hören. Es ist der Wachmann, der seine Runde geht. Die beiden lassen sich zu Boden sinken, bis sie an der Treppe knien. Die Ratten machen ihnen nichts aus, Hauptsache, sie werden nicht gesehen. Aber auch sie können in ihrer Umgebung nichts erkennen. Sie werden beschützt von einem aufgegebenen Bauwerk aus Eisen und Beton, riesengroß und unwirtlich. Sie machen es zu einem Schlafraum in Ruinen. Das Kriegsszenario ist eine Erinnerung für den, der keine andere hat.
    »Halt den Atem an, wenn’s geht«, flüstert der Dieb, bevor er die Hand vom Mund des Rekruten nimmt.
    Die Schritte des Wachmanns entfernen sich. Sie sehen sich sekundenlang an, ohne ein Wort zu sagen. Nur ihrer beider Atem ist zu hören. Der Dieb steht auf, als wäre nichts passiert, und sieht sich im Schuppen um.
    »Ich weiß nicht, wie du heißt. Was ist, wenn ich dich rufen muss?«, flüstert Andrej, bevor der Dieb in der Dunkelheit verschwindet.
    Der Dieb kommt zurück und sieht ihn aus der Dunkelheit an.
    »Ruslan. Und du?«
    Andrej denkt an den Tag, als er gleich nach seiner Ankunft in der Kaserne das Abzeichen auf seine Uniform nähen musste. Seinen Namen und seine Rekrutennummer. Und diese Erinnerung bringt andere mit sich: Die Soldaten, die frühmorgens für ihre Übungen aufstehen, müssen die Uniformen anziehen, die sie auf Anweisung des Feldwebels Krassin beim abendlichen Duschen zu waschen haben. Die Re kruten tragen nur Sandalen. Andrej legt niemals die Kette mit dem kleinen Goldkreuz ab, die seine Mutter ihm geschenkt hat. Alle seifen sich ein und warten auf das eiskalte Wasser, das aus einem mit kleinen Löchern versehenen Rohr unter der Decke kommt. Die Uniformen waschen sie in Blechwannen, scheuern die Wäsche auf dem Fußboden. Wenn sie Glück haben, sind die Sachen am nächsten Morgen trocken, denn anziehen müssen sie die Uniform in jedem Fall. Der Feldwebel brüllt: Wascht die Uniform und den Sack! Wascht euch ordentlich den Sack! Und lacht dazu. Bettlaken und Handtücher werden nach dem Duschen ausgeteilt. Und einmal fühlt sich Andrej ertappt von Korsakow, als er den Körper von Baladski bewundert, der noch mit geschlossenen Augen, das Gesicht voller Seife, unter der Dusche steht. Falls Korsakow wahrnimmt, was Andrej empfindet, und ihn bei den Vorgesetzten anschwärzen geht, dann muss er schon dasselbe empfunden haben. Aber darum geht es jetzt nicht. Der Feldwebel inspiziert einmal in der Woche die Körper der Rekruten. Dann müssen sie die Unterhosen bis zu den Stiefeln herunterziehen. Im Winter sind es die langen Unterhosen. Jede Woche dasselbe, doch in der letzten Woche hat er bei Andrej genauer hingesehen. Er hat jedes einzelne Haar untersucht. Es war Baladski, der den Rekruten die Haare schnitt. Andrej träumte immer von dem Tag, an dem ihm die Haare geschnitten werden sollten. Und wenn es so weit war, schloss er die Augen, während Baladski seinen Kopf liebkoste.
    Andrej schließt die Augen und stellt sich den

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