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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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Taschendieb ohne Hemd und ohne die abgewetzten Hosen vor. Er stellt sich vor, wie sie sich beide ausziehen und einander betastend entdecken. Und dass, während sie einander berühren, sich küssen und hinlegen, auch der Staub des Schuppens sich auf sie legt. Zuerst auf die Falten der Kleider, der heruntergelassenen Hosen, der offenen Hemden, der Unterhosen und Socken. Dann auf die Falten der Körper, die Knie, die Ellbogen und die Leisten. Das geschieht unmerklich und ganz allmählich. Je mehr sie sich berühren, umso schmutziger werden sie. Nach und nach hüllt der Ort sie ein. Auf Brust, Gesäß, Schenkel, Geschlecht, Hoden und Rückenmuskeln legt sich nach und nach der Staub von den Händen. Sie liegen im Dreck des Zementbodens, stoßen an Schutt, scheuern sich wund, ohne Schmerz zu empfinden, ihre Körper eng aneinandergepresst.
    Mag sein, dass dem Taschendieb das alles gar nicht bewusst ist, als er sieht, dass der Rekrut die Augen geschlossen hat, und ebenso wie dieser träumt und begehrt. Mag sein, dass ihm nicht bewusst ist, dass er Sex mit Ruinen und Gefahr assoziiert, weil er ihn mitten im Krieg entdeckt hat, und dass er, wenn ihm jemand begegnet ist, immer die Nähe von Ruinen sucht, weil er einmal gezwungen war, in ihnen das tröstliche Szenario eines Zuhauses zu sehen, wo es keinen Trost mehr gab. Wenn es nichts mehr gibt, gibt es immer noch Sex und Krieg. Sex und Krieg sind das, was allen Männern gemein ist, ob reich oder arm, ob gebildet oder nicht. Sex und Krieg eignet man sich nicht an. Die Vorstellung, dass es eine noch größere Verletzlichkeit als seine eigene gibt, weckt in ihm Liebe. Für Andrej hingegen rührt die stumme Euphorie aus der Entdeckung und der Verwunderung, aus dem für ihn ganz neuen Gefühl, dass er dort, inmitten dessen, was von der verlorenen Welt rings um ihn noch vorhanden ist, das affektive Gedächtnis des Mannes teilt, den er neben sich hat. Und dass er deshalb weniger allein ist. Das harte Geschlecht des Diebes vergewissert ihn des eigenen Begehrens. Der Krieg sucht sie heim. Für den Dieb, der vor der Vergangenheit fliehen muss, als Erinnerung und für den Rekruten, der die Zukunft zu vermeiden sucht, als Bedrohung. Einen Augenblick lang sind sie in der Gegenwart zusammen. Andrej nähert sich und knöpft die Hose des Taschendiebes auf. Als er vier Stunden später die Augen aufschlägt, ist er nicht mehr an seiner Seite.
    Am Abend macht Andrej sich wie an den sechs Abenden zuvor auf die Suche nach ihm. Er kann nicht anders. Er streift in der Umgebung des Wosstanja-Platzes umher. Sucht die selben dunklen Innenhöfe auf. Beobachtet das Licht in den Küchenfenstern im hinteren Teil der Wohnungen, wo sich die Familien zum Abendessen versammeln und anschließend sitzen bleiben. In einer Wohnung wird gestritten. Er hört das Geklapper von Tellern und Besteck, die abgewaschen werden. Das Lachen einer Frau hallt zwischen den Häusern wider. Und allmählich fasst er Mut und steigt in dieselbe Metro, in der er zwei Abende zuvor bis zur Endstation und zu den Wohnsilos im Süden der Stadt gefahren ist, als er den Dieb verfolgte. Auch wenn er ihn jetzt nicht verfolgt, fährt er bis Kuptschino. Er verlässt den Bahnhof, passiert das um diese Uhrzeit geschlossene Einkaufszentrum und geht zwischen den Wohnblocks aus den achtziger Jahren weiter, den Überbleibseln des in den letzten Zügen liegenden Kommunismus, und überquert den nackten Fußballplatz. Er legt den gleichen Weg zurück, den er vor zwei Tagen in umgekehrter Richtung gegangen ist, nachdem er morgens mit einem Brummschädel auf der Treppe eines fremden Wohnhauses aufgewacht war und sich auf den Heimweg machte, unter den hellen und rötlichen Streifen der Morgendämmerung auf einem dunkelblauen, tiefen Himmel, der sich über den Ruinen der jüngsten Vergangenheit und der riesigen Enttäuschung dehnte. Ein Mann raucht auf der verrosteten Außentreppe des fünften Stocks, wo Wäsche und Teppiche aufgehängt sind. Andrej hört Geräusche von Fernsehgeräten. Als er an einer Gestalt vorbeigeht, senkt er den Kopf. Er überlegt es sich zweimal, bevor er das Haus betritt. Er weiß nicht, welches Stockwerk es ist. Eine alte Frau bringt ihren Müll herunter. Sie begegnen sich auf der Mitte der zweiten Treppe. Und als sie ihm einen guten Abend wünscht, fragt er sie.
    »Ich suche einen jungen Mann, ungefähr in meinem Alter, ungefähr so groß wie ich, der ungefähr so aussieht wie ich, unrasiert und mit schwarzem Haar.«
    Die alte Frau

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