Dreihundert Brücken - Roman
zu.
»Andrej wollte den Militärdienst nicht machen. Nikolai hat ihn dazu gezwungen. Er hat gesagt, wenn er in Russland bleiben will, muss er beweisen, dass er ein Russe ist. Mein Mann glaubt an Erziehung im alten Stil. Wenn ihm das gutgetan hat, warum sollte es dann seinem Stiefsohn nicht guttun? Er will, dass Andrej beim Militär bleibt. Damit er ein Mann wird. Es war zu seinem Besten, dass er ihn zu Hause rausgesetzt hat, damit er sich durchschlagen lernt. Das ist seine Einstellung. Andrej hat sich mit seinem Stiefvater niemals verstanden. Er ist ein besonderer Junge.« Olga lächelt hilflos und wischt sich über die Augen.
Marina ist einfache Frauen gewohnt. Aber Olga ist eine verängstigte Frau. Je mehr sie sich bemüht, ihre Nervosität zu überspielen, umso deutlicher wird, dass sie etwas zu verheimlichen hat. Das Äußerste, was sie für ihren Sohn tun konnte, ist ihre heimliche Fahrt nach Moskau, die Situation nutzend, dass der Mann nicht da ist. Und für sie ist das offenbar sehr viel. Sie redet ohne Unterlass. Einerseits ist dies für sie eine seltene Gelegenheit, über ein Thema zu reden, das zu Hause verboten ist, andererseits hat sie damit eine Möglichkeit gefunden, die Übergabe des Passes ihres Sohnes an eine Fremde noch ein paar Minuten hinauszuzögern. Unbewusst wehrt sie sich noch dagegen, als hieße es, ihren Sohn in das Leben hinauszuschicken, sich für immer von ihm zu trennen.
»Anfangs habe ich ihm geschrieben. Aber er hat nie geantwortet. Sie sind ja auch Mutter, Sie können das sicher verstehen.«
Marina widerspricht ihr nicht. Andrej hat ihr gesagt, seit seiner Ankunft in St. Petersburg habe er nie Post von Zuhause erhalten.
Olga spricht weiter: »Schon als Kleiner war er in der Gruppe immer still, aber er redete mit sich selbst.«
Marina senkt den Blick. Ein kleiner Junge von höchstens drei Jahren geht an der Hand der Mutter am Tisch vorbei und lächelt sie an, bevor er aus ihrem Blickfeld verschwindet.
»Ich habe ihn seit über einem Jahr nicht gesehen«, sagt Olga.
»Das kann ich verstehen«, sagt Marina und sieht sie wieder an. Wenn Olga, was ihr Alter betrifft, nicht gelogen hat, dann ist sie früh gealtert. Sie muss in der Jugend hübsch gewesen sein. Jetzt ist sie eine schwache Frau, die sich gehen lässt. Ihr Gesicht ist nicht symmetrisch. Das eine ihrer hellen Augen schielt ein wenig und fleht um das Verständnis einer Fremden.
»Natürlich«, sagt Marina wieder, »natürlich«, damit sie sich nicht noch mehr anhören muss.
Olga nimmt ein Bündel Umschläge aus der Tasche. Es sind Briefe, die der Vater im Laufe des letzten Jahres an Andrej geschrieben hat. Sie reicht sie Marina zusammen mit dem Pass und bittet, sie Andrej zu geben.
»Das sind die Briefe von seinem Vater. Ich rufe ihn heute noch an. Sie können beruhigt sein, er wird das Ticket schicken.«
Marina nimmt das Bündel entgegen und schlägt den Pass auf.
»Er wurde auf Wunsch seines Vaters beim Konsulat ohne den Vaternamen Alexandrowitsch eingetragen«, sagt Olga, als bäte sie um Entschuldigung und müsse alles erklären.
»Auch besser so«, sagt Marina gereizt.
16.
Im Japanischen Meer
E in paar tausend Kilometer weiter weg, auf hoher See, schlägt Nikolai das Tagebuch auf, in dem er alles festhält, worüber er mit keinem Menschen je gesprochen hat, auch nicht mit seiner Frau. Er liegt in seiner Kabine, das Tagebuch auf den angewinkelten Beinen, den Kopf auf dem Kopfkissen an der grau angestrichenen Metallwand, im schwachen, flackernden Licht der Bettbeleuchtung. Nicht nur die niedrige Decke bedrückt ihn, auch draußen ist alles düster. Der bleigraue Himmel und der Regen, der auf das Japanische Meer prasselt, geben ihm das Gefühl, eingesperrt zu sein. Die Monotonie und die Ängste, die dieser trostlose Anblick weckt, verschwinden mit Einbruch der Dunkelheit, wenn alles verschwindet. Meer, Himmel und Horizont. Nur der Wind in den Luken bleibt, wenn alle sich schlafen legen.
Nikolai denkt darüber nach, was »die Gleichgültigen grausam« werden lässt, einen Satz, den er irgendwo gehört oder gelesen hat. Er schreibt: »Früher oder später begegnet ihnen das, was sie definieren wird.« Heute hat er eine schreckliche Szene erlebt. Ein Rekrut ist an Deck ausgerutscht und ins Meer gestürzt, als sie ein Beiboot hochzogen. Einen Moment lang glaubten alle, er sei verloren. Das Schreien der Besatzung übertönte das verzweifelte Brüllen des Kommandanten, als er davon erfuhr. Nur der Erste Offizier
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