Dreihundert Brücken - Roman
früher hier. Ich wusste nicht, wohin. Also habe ich hier gewartet.«
»Entschuldigen Sie, dass ich diesen Treffpunkt ausgesucht habe«, sagt Marina mit einem Blick in die Runde. »Ich hätte etwas Besseres aussuchen können, aber ich dachte, das hier sei praktisch für uns beide.«
»Natürlich.« Olga versteht nicht, warum sie sich wegen des Lokals entschuldigt.
»So, und was ist mit dem Pass?«
Die Direktheit dieser energischen rotblonden Frau, die sie noch nie zuvor gesehen hat, lässt Olga zum ersten Mal misstrauisch werden. Nach all den Mühen, den Pass für ihren Sohn zu bekommen, wird sie ihn nun, so schießt es ihr durch den Kopf, einer Fremden übergeben. Plötzlich wittert sie eine Falle. Das Land wimmelt von Opportunisten und Kriminellen.
Marina merkt, dass die Mutter des Rekruten zögert.
»Sie müssen müde sein. Wie viele Tage ist man von Wladiwostok bis hierher unterwegs?«
»Ungefähr eine Woche. Es kommt auf den Zug an. Früher bin ich häufiger gekommen. Als meine Eltern noch lebten. Vor zwei Jahren war ich zuletzt hier. Ich habe hier einen Bruder.«
»Ich bin nie weiter als bis Nowosibirsk gekommen.«
Olga lächelt leicht.
»Das ist praktisch die halbe Strecke.«
»Die Familie meines Mannes stammt von dort.«
»Fahren Sie oft dahin?«
»Seit dem Tod meines Mannes war ich nicht mehr da.«
»Oh, entschuldigen Sie. Mein Beileid.«
»Das ist fast drei Jahre her.«
»Sie haben nicht wieder heiraten wollen?«
»Nein.«
»Entschuldigen Sie. Was frage ich so neugierig! Ich bin so viel allein, dass ich, wenn ich jemanden treffe, immer gleich alles wissen will.«
Beide lächeln. Sie haben sich nichts weiter zu sagen.
»Entschuldigen Sie, dass ich mich nicht schon früher bedankt habe. Andrej hatte großes Glück, dass er Ihnen begegnet ist. Es war sehr großzügig von Ihnen, ihn in Ihrer Wohnung aufzunehmen.«
»Sie steht sowieso leer. Ich wohne schon seit einiger Zeit nicht mehr da.«
Marina spürt Olgas Neugier und kommt ihrer Frage zuvor.
»Ich habe mich da nicht mehr wohlgefühlt. Zu viele Erinnerungen.«
»Seit drei Jahren steht die Wohnung leer?«
»Drei Jahre?«
»Seit dem Tod Ihres …«
»Nein, nein. Mein jüngerer Sohn und ich sind nach dem Tod meines Mannes da wohnen geblieben.«
Am liebsten hätte Olga sich weiter nach Marinas Leben und Familie erkundigt, aber sie hält sich zurück, um nicht indiskret zu sein.
»Wie geht es ihm?« Endlich gestattet sie sich, die Frage zu stellen, die sie von Anfang an vor sich herschiebt.
Einen Moment herrscht Verwirrung. Als Reaktion auf Marinas Gesichtsausdruck präzisiert Olga ihre Frage.
»Wie geht es Andrej?«
Sekundenlang glaubte Marina, die Frage beziehe sich auf ihren eigenen Sohn. Erleichtert antwortet sie.
»Seien Sie unbesorgt. Es geht ihm gut. Mit dem Pass wird jetzt alles einfacher. Wenn er erst einmal über der Grenze ist, kann er ohne größere Schwierigkeiten nach Brasilien weiterreisen. Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit, ihn ohne Probleme über die Grenze zu schaffen. Weiß sein Vater schon Bescheid?«
Olga wendet den Blick ab.
»Ich habe ihn nicht erreicht. Er war beruflich unterwegs. Aber das ist kein Problem. Ich rufe heute noch einmal an.«
»Wie lange hat er den Vater nicht gesehen?«
Olga überlegt.
»Zehn Jahre?«
Sie lächeln wieder beide.
»Wollen Sie nichts essen?«, fragt Olga.
»Nein danke. Nicht hier.«
»Möchten Sie lieber woandershin gehen?«, fragt sie beschämt, weil sie angenommen hat, Marina könnte in diesem Lokal essen wollen.
»Nein, hier ist es sehr gut, keine Sorge, ich habe nur keinen Hunger.«
»Sie haben es sicherlich eilig, oder? Sie sind doch bestimmt mit Arbeit überlastet in Petersburg.«
»Seit der Krieg wieder angefangen hat, ist es schlimmer geworden.«
Olga fragt vorsichtig: »Weiß er, dass ich nach Moskau gekommen bin?«
Marina sieht sie groß an. »Er hat mir doch selbst Ihre Telefonnummer gegeben.«
»Ich konnte nicht bis nach Petersburg fahren. Verstehen Sie?« Marina sagt nichts. Sie hat keine Erklärung verlangt. Olga spricht weiter: »Ich hätte, abgesehen von ihm, keinen anderen Grund gehabt, nach St. Petersburg zu fahren. Und dann hätte Nikolai davon erfahren. Zum Glück ist er diese Woche auf See, mit der Flotte, wissen Sie. Manchmal ist er wochenlang weg. Wenn er zurückkommt, sage ich, ich hätte meinen Bruder in Moskau besucht. Mein Bruder ist krank, das ist er wirklich. Und ich war schon lange nicht mehr hier.«
Marina hört ihr schweigend
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