Dreihundert Brücken - Roman
hörte es und sah, dass ihm nicht nur der Regen über das Gesicht lief. Zum Glück befand sich noch ein Beiboot im Wasser, und der Rekrut wurde lebend geborgen und sofort auf die Krankenstation gebracht. In seiner Zeit als Rekrut hatte der Kommandant bei einem ähnlichen Unfall in der Barentssee einen Freund verloren, weil er nicht die Kraft hatte, den jungen Mann an dem Seil, an dem er sich gerade noch festhalten konnte, nachdem er ins Meer gefallen war, wieder an Deck hochzuziehen. Zum Zeitpunkt des Unfalls waren sie beide allein, und er hat sich nie ganz von dem Gedanken freimachen können, dass ein Fehler von ihm zu dem Unfall geführt hatte. Als Verstärkung kam, war es zu spät, sein Kamerad hatte das Seil gerade losgelassen und war im eiskalten Wasser für immer untergegangen. Seitdem begleitet ihn die Erinnerung an den Unfall. Der Aufschrei, den er am Morgen ausgestoßen hat, als der Erste Offizier ihm mitteilte, dass ein Rekrut ins Meer gefallen sei, ist in den Zeilen des Tagebuchs festgehalten, das er erst vor zwei Jahren zu schreiben begonnen hat, als er den Auftrag erhielt, Nuklearabfall im Japanischen Meer zu versenken. Denn so viele Geheimnisse konnte er nicht mehr für sich behalten.
Er legt das Tagebuch weg und löscht das Licht. Und sowie er die Augen geschlossen hat, beginnt er zu träumen. Es kann nur ein Traum sein, denn er spielt sich im Zweiten Weltkrieg ab, und er ist erst 1960 geboren. Es sind keine Erinnerungen. Er träumt von seiner Mutter. Im Traum ist sie zwar noch jung, aber schon seine Mutter, wie er sie gekannt hat, als sie älter war. Sie kommt nach Hause, den Rock voller Kartoffeln, die Hände voller Erde. Sie ist erschöpft. Sie lässt die Kartoffeln auf den Boden fallen und sinkt bewusstlos aufs Bett. Und er, der kleine Junge, hat zwar einen Mordshunger, lässt aber die Kartoffeln liegen, setzt sich neben die Mutter und wäscht ihr die schmutzigen Hände. Ohne Unterlass reibt er die Hände der Mutter. Doch die Erde hat sich unter die Fingernägel und in die Falten der schwieligen Haut eingefressen. Er schafft es nicht, ihr die Hände zu säubern. Und wacht weinend auf.
Eines Tages, wenn er alt und gebrechlich ist, wird vielleicht seine Tochter an seinem Bett sitzen und aus dem Tagebuch vorlesen, so wie er ihr, wenn er nicht im Dienst mit der Flotte auf dem Meer ist, vor dem Einschlafen Geschichten über den Wald und Zauberer vorliest. Und vielleicht werden diese Zeilen ihn freisprechen in ihren Augen, die keine Wälder mehr sehen und nicht mehr an Zauberer glauben werden. Ein einziges Mal hat er Olga geschlagen, das war spätnachts, er kam betrunken nach Hause, Jewgenia war noch zu klein, um es zu verstehen, aber sie hat geweint, als sie den Streit zwischen ihnen hörte. Nur wenn er, einmal im Jahr, zu Ostern, in die Kirche geht, denkt Nikolai an jene Nacht zurück und bittet um Vergebung. Aber darüber steht in dem Tagebuch, das geschlossen neben dem Bett liegt, keine einzige Zeile.
Vor anderthalb Jahren hat Jewgenia erlebt, wie er den älteren Bruder verprügelte. Andrej ist nicht sein Sohn. Nikolai hat sich mit dem Stiefsohn nie vertragen. Im Grunde kann er die Jugend nicht leiden. Er kann sich nicht damit abfinden, dass er seine eigene Jugend verloren hat. Kinder stimmen ihn liebevoll, doch bei Jugendlichen, die die Lust entdecken, verliert er den Kopf. Die Vorstellung, dass seinem Stiefsohn der Militärdienst erspart bleiben könnte, war ihm unerträglich. In all den Jahren, während der Junge heranwuchs und er wegen der Mutter mit ihm unter einem Dach leben musste, obwohl es schon offensichtlich war, dass sie nicht miteinander auskamen, hat Nikolai schweigend auf die Stunde der Abrechnung gewartet. Von Anfang an empfand er ihn als Rivalen, weil seine Frau ihren Sohn liebte. Er versuchte, ihn zu ignorieren, weil er sie auch liebte. Doch als der Junge immer hübscher wurde, wuchs auch seine Rivalität. Nur die Aussicht, dass es mit dieser ganzen Glückseligkeit, Unschuld und Unabhängigkeit eines Tages ein Ende haben würde, konnte ihn beruhigen. Wenn man ihm, als er jung war, nicht das Recht zu wählen zugestanden hatte, warum sollte er dem Jungen diese Freiheit gewähren? Jahrelang hielt er sich strategisch mit seiner Meinung zurück, obwohl sie ganz klar war. Mutter und Sohn hatten sich täuschen lassen. Weil sie es wollten. Weil sie es nicht hatten sehen wollen. Und waren überrascht, als es so weit war. Sie saßen gerade beim Abendessen, und sie sagte, der Augenblick
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