Dreihundert Brücken - Roman
rücke näher, sie müssten sich darum kümmern, dass der Junge vom Militärdienst befreit werde. Da explodierte er. Zuerst streng und knapp, als erteilte er einer Untergebenen einen Befehl, und dann, nachdem sie nicht klein beigegeben hatte, brüllend und schon völlig außer sich, verbot er ihr, auch nur irgendetwas in dieser Hinsicht zu unternehmen. Und weil sie ihn liebte, aber auch, weil sie dazu erzogen war, ihn zu lieben und ihm zu gehorchen, und vor allem wegen der kleinen Tochter und weil sie im Laufe der Jahre zu einer schwachen Frau geworden war, hatte sie geschwiegen. Und der Junge hatte begriffen, dass er allein war und mit der Mutter nicht mehr rechnen konnte.
Andrej nahm sein Leben selbst in die Hand. Im Prinzip hätte es genügt, die Aufnahmeprüfungen zu bestehen und ein Studium aufzunehmen, dann hätte man ihn bis zum Ende des Studiums in Ruhe gelassen. Er konnte nicht damit rechnen, dass sein Stiefvater entschlossen war, alle seine Pläne, gleich welcher Art, zu durchkreuzen, und dass er nicht nur keinen Finger rühren würde, um ihm zu helfen, sondern, wo es ihm möglich war, ihn daran hindern würde, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um die Einberufung zu umgehen. Als Nikolai merkte, welche Strategie sein Stiefsohn verfolgte, und ihm klar wurde, dass die Aufnahme eines Studiums genügte, um dem Militärdienst zu entkommen, verlangte er von Andrej, er solle zum Haushalt beitragen, wenn er weiterhin bei ihnen wohnen wolle. Der Mutter gegenüber erklärte er, ihr Sohn sei nun ein Mann. Durch fortgesetzte Provokationen versuchte er ihr zu zeigen, wie es war, den Jungen weiter im Haus zu haben, auch wenn Andrej ihnen anfangs teils durch Schweigen, teils durch Argumentation die Spitze zu nehmen wusste. Doch Nikolai war inzwischen fest entschlossen, ihn loszuwerden, und so kam der Tag, an dem er, als ihm die eigenen Argumente ausgingen, sich beim sonntäglichen Mittagessen auf den Jungen stürzte, ihm einen Schlag ins Gesicht versetzte und verlangte, er solle verschwinden und sich nie wieder blicken lassen, solange er nicht für sich selbst sorgen könne. Mutter und Schwester saßen weinend am Tisch und versuchten, sich für Andrej einzusetzen, doch ihr Ehemann und Vater brüllte: »Er muss das lernen, so wie ich es gelernt habe.«
Nachdem er nicht mehr zu Hause wohnte und nun für Logis und Essen zahlen musste, sah Andrej sich gezwungen, die Schule aufzugeben. Er hätte einen Arzt bitten müssen, ihm ein Attest für die Befreiung vom Militärdienst auszustellen, damit er Zeit gewinnen und sich für die Universität vorbereiten konnte. In einer Anwandlung von Tollkühnheit, im Gegensatz zu ihrem sonst immer unterwürfigen Wesen, ergriff Olga die Initiative, ging, ohne dass ihr Mann davon wusste, zu Dr. Antonow, bat ihn um Diskretion und versicherte ihrem Sohn, alles werde gut. Doch als sie, ein paar Tage bevor Andrej sich zur Musterung vorstellen sollte, wieder in Dr. Antonows Praxis ging, um das Attest abzuholen, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass der Arzt es sich anders überlegt hatte. Woraus Olga unschwer schließen konnte, dass der Arzt sich bei Nikolai erkundigt hatte, bevor er das Attest ausstellte. Beschämt und zu feige, dem Sohn gegenüberzutreten, tat sie das Einzige, was sie nicht hätte tun dürfen: Anstatt zu ihm zu gehen und ihm zu erklären, was geschehen war, ließ sie ihn einfach dort warten, wo sie sich verabredet hatten. Sie ließ ihren Sohn ohne das Attest, das sie ihm versprochen hatte, zur Musterung gehen.
17.
Vor der Schule, St. Petersburg
R oman kommt gerade mit seinen Kameraden aus dem Schulgebäude, als er Maxim auf der anderen Straßenseite an einer Ecke stehen sieht. Seit einer Woche hat er ihn nicht getroffen. Die Gegenwart seines Bruders stört ihn mehr, als er sich hat vorstellen können. Er verabschiedet sich von den Freunden. Sie sollen ihn nicht mit seinem älteren Bruder zusammen sehen. Das letzte Mal, als Maxim ihn von der Schule abgeholt hat, haben sie sich gestritten. Roman schwankt, ob er zu seinem Bruder gehen oder die entgegengesetzte Richtung einschlagen soll, und in dem Augenblick spricht ihn Swetlana an.
»Gehst du mir aus dem Weg?«
»Nein. Ich gehe niemandem aus dem Weg«, sagt er mit einem Blick in Richtung seines Bruders.
»Seit du aus den Ferien zurück bist, sprichst du nicht mit mir.«
»Ich lerne.«
»Gleich zu Anfang des neuen Schuljahres?«
»Ich möchte in Mathematik und Physik nicht mehr die gleichen Noten bekommen wie im
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