Dreihundert Brücken - Roman
letzten Jahr.«
»Dann solltest du vielleicht nicht mehr jeden Tag Hockey spielen.«
»Das entscheide nicht ich.«
»Dass du nichts selbst entscheidest, habe ich inzwischen kapiert.«
»Wir sind eine Mannschaft. Andere hängen von mir ab.«
»Nicht zu glauben! Andere hängen von dir ab?«
»Ich habe meiner Mannschaft gegenüber Verantwortung.«
»Du und Verantwortung?!«
»Was ist denn überhaupt los? Was ist das Problem?«
»Welches Problem?!«
»Was willst du? Ich bin noch keine sechzehn. Du kannst ja wohl nicht geglaubt haben, wir würden für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben.«
Swetlana antwortet nicht. Maxim steht noch immer an der Ecke.
»Das ist jetzt wirklich nicht der geeignete Augenblick«, sagt Roman. Maxim auf der anderen Straßenseite zündet sich eine Zigarette an.
»Ludmilla hat dich gestern Nachmittag auf dem Manegenplatz gesehen«, sagt Swetlana schließlich, als rückte sie mit etwas heraus, das ihr im Magen liegt.
»Ja und?«
»Da hast du nicht trainiert und auch nicht gelernt.«
»Ich war mit Freunden zusammen. Also, können wir uns vielleicht ein andermal unterhalten?«
»Du wirst dich irgendwann entscheiden müssen.«
»Na gut, dann ist es hiermit entschieden.«
Roman lässt sie stehen. Er überquert die Straße und geht zu der Ecke, wo Maxim wartet. Swetlana beobachtet sie und sieht, wie sich die beiden unterhalten. Maxim sagt etwas, und Roman schüttelt den Kopf. Dann lässt er den Kopf hängen. Maxim packt ihn am Arm. Roman stößt seinen Bruder weg.
»Warum gehst du nicht hin?«, fragt er.
»Du hast nicht verstanden. Ich will nicht, dass er mich erkennt.«
»Mich hat er auch schon gesehen.«
»Ich will nicht, dass er mich hinterher erkennt.«
»Wann, hinterher?«
»Gehst du jetzt oder nicht?«
»Wie bist du an die Adresse gekommen?«
»Papa hat versehentlich in meinem Zimmer einen Zettel fallen lassen. Den hat er wohl in Mamas Sachen gefunden. Es ist ihre Schrift. Seit sie ihn degradiert haben, wühlt er auch in meinen Sachen. Er hat nichts mehr zu tun. Er ist alt. Kann seinen Job nicht mehr ordentlich machen. Schlamperei. Neuerdings hinterlässt er Spuren. Was ist jetzt? Gehst du oder nicht?«
Roman senkt den Kopf und tritt gegen einen Stein. Maxim spricht weiter.
»Du sollst nur eine Nachricht überbringen. Ist doch nichts Besonderes. Wenn wir nicht die Initiative ergreifen, passiert nichts. Papa wird nichts unternehmen. Er ist ein Waschlappen. Warum, glaubst du wohl, haben sie ihn degradiert?«
Roman weigert sich, er will nicht in die Sache hineingezogen werden. Maxim legt nach.
»Es ist eine Schande. Der Mann könnte ihr Sohn sein. Oder möchtest du vielleicht einen kleinen Schwarz-Arsch-Bruder kriegen? Denn das wird am Ende dabei rauskommen, wenn Mama sich weiter mit diesem Arbeiter vom Kaukasus trifft. Willst du das, ja? Über kurz oder lang wird das passieren. Sich fortpflanzen gehört genauso zur Natur des Menschen wie Krieg. Sich fortpflanzen und töten.«
18.
Zwei Tage später
E s ist noch früh am Morgen, als Andrej vom Bäcker zurückkommt und Marina Bondarewa aus dem Haus treten sieht. Vor vier Tagen muss sie sich mit seiner Mutter in Moskau getroffen haben. Er versteckt sich im Eingang eines Geschäfts, das noch nicht geöffnet hat, und schließt die Augen. So früh hat er nicht mit ihr gerechnet. Sein Herz schlägt schneller. Er stellt sich vor, dass sie den Taschendieb in der Wohnung angetroffen hat und dass alles verloren ist. Er denkt an die Tage und die Nächte, seit er ihn kennengelernt hat, und an künftige Tage und Nächte ohne ihn. Er stellt sich vor, was er zu verlieren hat. Die Liebe, das ist es, was er zu verlieren hat. Liebe und Krieg vermischen sich in seinem Kopf, so wie bei dem Dieb. Er stellt es sich vor und wünscht sich, es wäre nicht alles verloren. Er stellt sich ein Haus am Strand vor, weit weg von der Welt, die er bisher kennengelernt hat, im Land seines Vaters, wo er nie gewesen ist, wo die Unschuldigen leben. Es ist das Haus, von dem sein Vater ihm erzählt hat, als er klein war. Er stellt es sich weiß vor. Und in diesem Haus stellt er sich ein mögliches Leben vor. Mit dem Taschendieb an seiner Seite. Er sagt zum Taschendieb: »Sag mir, dass es nicht wahr ist.« »Was?«, fragt der Taschendieb. Und bevor er in seiner Vorstellung antworten kann, es könne einfach nicht sein, dass es keine Unschuld gibt, irgendwo müssten die Unschuldigen leben, biegt Marina um die Ecke, die Luft ist rein, und er läuft zurück
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