Dreihundert Brücken - Roman
Treppe hinunter. Andrej schließt die Tür. Der Zorn schießt ihm durch die Finger, die Hände und die Arme, durch den ganzen Körper, die Beine und Füße und findet keinen Ausgang. Andrej schlägt mit der Faust gegen die Wand und fällt schmerzverkrampft zu Boden. Bleibt mit geschlossenen Augen reglos liegen, um nicht hinter Ruslan herzulaufen. Fast eine halbe Stunde lang liegt er so da. Schließlich steht er auf und geht ins Schlafzimmer. Und da erst nimmt er das Blatt Papier wahr, das gefaltet zwischen den Laken liegt. Es ist ein Brief. Er liest: »Als ich klein war und mein Vater mit mir durch die Berge reiste, um mir die Landschaft seiner Vorfahren zu zeigen, kamen wir zu einem Haus, wo ein Tier geboren worden war, das eigentlich zwei, aber wiederum keins war. Eine Stute hatte ein Fohlen geboren, in dem sich zwei Embryos verwachsen hatten. So etwas nennt man Chimäre, wie ich später auf der Universität gelernt habe. Es war ein merkwürdiges Tier, sah aus wie ein Fohlen, war aber etwas anderes, zwei miteinander verwachsene, nicht zu unterscheidende in einem einzigen. Es konnte sich nicht auf den Beinen halten. Chimären kommen selten vor, die Hirten in den Bergen betrachten sie als Unglücksboten, denn sie führen die Fortpflanzung in eine Sackgasse, machen sie zu einer Monstrosität. Wenn diese Tiere nicht schon bei der Geburt sterben, übernehmen es deshalb die Bauern, ihnen ein Ende zu machen. In den Bergen hat jeder Mann einen kunak , einen Freund aus der Fremde, der ihn vor dem Tod bewahrt und den auch er vor dem Tod zu bewahren hat. Kein Mann ist ein vollständiger Mann, bevor er nicht seinen kunak gefunden hat. Erst dann kann er in Ruhe seinen eigenen Weg gehen, in dem Wissen, dass es in der Welt einen wie ihn gibt, auf den er im Leben wie im Tod zählen kann. Die Chimären sterben, damit der Pakt zwischen denen, die weder auf Gott noch auf die Engel zählen können, überlebt.« Nachdem Andrej den Brief gelesen hat, geht er ins Wohnzimmer. Er nimmt die Muschel, die Ruslan auf den Tisch gelegt hat, und steckt sie in die Hosentasche.
19.
Über dem Oiapoque
E ine gute Stunde, nachdem die Propellermaschine in Belém abgehoben hat und bevor sie den Oiapoque überfliegen, bittet der junge Mann, der neben Alexandre Guerra am Fenster sitzt, um Hilfe beim Ausfüllen des Einreiseformulars für Surinam. Er sagt, er könne kein Englisch. Alexandre merkt, dass er das Formular auch dann nicht ausfüllen könnte, wenn es auf Portugiesisch geschrieben wäre. Der junge Mann fragt, ob er auch nach Paramaribo fliegt.
»Nein, ich steige vorher aus, in Cayenne«, sagt Alexandre.
Er sagt nicht, dass dies seine letzte Reise ist und dass er es alles satt hat, Koffer mit doppelten Böden, geheime Verpackungen, Kontaktleute bei der Polizei auf beiden Seiten der Grenze, Schmiergelder für den Zoll, schlaflose Nächte im Urwald. Seit zwei Jahren legt er alle drei Monate dieselbe Route zurück, als Vertreter einer Firma für Autoersatzteile, die es gar nicht gibt. Er gilt als Geschäftsmann. Und es ist kaum zu glauben, dass nie jemand Verdacht geschöpft hat. Der junge Mann neben ihm trägt einen Lederhut und hat die Ärmel seines karierten Hemds bis zum Ellbogen hochgekrempelt. Er will in der Goldmine im Busch arbeiten. Dies ist seine zweite Reise nach Surinam. Kaum hat Alexandre das Formular fertig ausgefüllt, reicht ihm der Passagier, der hinter ihm sitzt, sein Formular und bittet ihn, es ebenfalls auszufüllen. Er kommt aus derselben Stadt wie der Bursche neben Alexandre, aus dem Landesinneren von Ceará. Sie sind Cousins. Der zweite junge Mann erzählt, er will Geld sparen und in einem Jahr wieder nach Hause. Der Besitzer der Goldmine ist ein Inder, der mit staatlichen Fördermitteln waldbestandenes Land gekauft hat und Arbeitskräfte aus dem brasilianischen Nordosten anwirbt. Angeblich aus Sicherheitsgründen behält er die Pässe der Arbeiter ein, solange sie sich auf seinen Ländereien aufhalten, dort schlafen, essen, trinken und sich verschulden. Viele haben am Ende weniger als bei ihrer Ankunft und kehren erst nach Hause zurück, wenn sie nicht mehr zu gebrauchen sind – nicht selten als Invaliden. Manche finden auch im Urwald ihr Grab.
»Du musst aufpassen, dass du nicht mehr ausgibst, als du verdienst«, sagt der junge Mann zu seinem Cousin in der Reihe hinter ihnen, ein etwas verschämter und leicht verspäteter Ratschlag, als wollte er gegenüber dem Mann, der so freundlich ihre Formulare ausfüllt, etwas
Weitere Kostenlose Bücher