Dreihundert Brücken - Roman
zur Wohnung. Er rennt die Treppe hinauf und öffnet außer Atem die Tür. Lässt den Beutel mit dem Brot im Flur liegen und hastet zum Schlafzimmer. Ruslan kommt gerade aus dem Bad.
»Was hast du gemacht?«
»Was meinst du?«
»Hat sie dich nicht gesehen?«
»Nein.«
»Wieso hat sie dich nicht gesehen?«
»Sie hat einen Zettel für dich hingelegt. Er liegt auf dem Tisch, zusammen mit dem Pass.«
»Mit dem Pass …?«, fragt Andrej nach, als wäre das eine schlechte Nachricht.
Er läuft ins Wohnzimmer. Da liegt der Pass, neben dem Zettel und einem Stapel Briefe. Der Taschendieb hätte ihn stehlen und damit verschwinden können. Das ist es, was dem Rekruten durch den Kopf geht. Und was der Dieb im Schlafzimmer begreift. Das Schweigen zwischen diesen beiden Männern, die nur eine Stuckwand trennt, ist die Form, die sie gefunden haben, eine Menge Dinge zu sagen, die seit Tagen unausgesprochen sind, seit sie sich zum ersten Mal begegnet sind, und die auch nicht ausgesprochen werden können. Wenn der Taschendieb wenigstens den Pass gestohlen hätte, hätte Andrej einen Vorwand, ihn immer noch jeden Abend in der Umgebung des Wosstanja-Platzes zu verfolgen. Der Pass besiegelt ihre Trennung.
»Was steht auf dem Zettel?«, fragt Ruslan aus dem Schlafzimmer.
Andrej faltet das Blatt auseinander und liest.
»Sie kommt in drei Tagen wieder. Ich soll dann morgens bereit sein. Wenn ich will, kann ich mich noch vorher bei ihr melden. Sie hat Verwandte in Karelien. Die werden mir helfen, über die Grenze zu kommen. Das sei einfacher und sicherer. Von Finnland aus kann ich dann gehen, wohin ich will.«
Den Rest liest er stumm: »Wir warten nur noch darauf, dass dein Vater das Ticket für den Flug von Helsinki nach São Paulo schickt. Es dürfte morgen kommen. Die Briefe neben dem Pass sind von ihm. Deine Mutter hat mich gebeten, sie dir persönlich zu bringen, sie fürchtete, sie könnten sonst verloren gehen.«
Ruslan auf der anderen Seite der Stuckwand schließt die Augen. Die ersten Sonnenstrahlen blenden ihn. Im Wohnzimmer fällt die Sonne quer über den Tisch, als Andrej das Bündel Briefe und den Pass an sich nimmt. Ruslan zieht sich Hemd und Hose an. Als er in der Tür erscheint, hält Andrej den Pass aufgeschlagen in der Hand. Bei Ruslans Anblick steckt er ihn in die Hosentasche. Ruslan blickt zur Seite. Andrej errötet, er hat das Missverständnis erkannt. Er schämt sich über das, was als automatische misstrauische Reaktion ausgelegt werden kann, während er seine Papiere doch nur deshalb weggesteckt hat, weil er es als kränkend empfand, sie dem zu zeigen, der gar keinen Anspruch auf einen Pass hat.
»Ich komme heute Abend nicht zurück«, sagt Ruslan.
»Warum nicht?«
»Du gehst in drei Tagen weg. Und vermutlich werden wir uns nie wiedersehen. Ich kann nicht mein Leben lang hierbleiben. Du wirst nicht bleiben. Du hast auch dein Leben.«
»Aber solange ich hier bin …«
Ruslan lächelt.
»Ich habe heute Abend eine Verabredung.«
Andrej senkt den Blick, er kann seine Überraschung und Enttäuschung nicht verbergen.
»Wenn ich dir sagte, dass meine Mutter in Petersburg lebt, würdest du mir nicht glauben.«
»Ich dachte, du hättest keine Mutter mehr.«
»Als ich mich bei ihr gemeldet habe, wollte sie mich nicht sehen. Jetzt will sie mich sprechen. Gestern Nachmittag hat sie ihren jüngeren Sohn zu mir auf die Baustelle geschickt. Ich soll heute Abend zum Apraxin Dvor kommen.«
Andrej ringt sich ein trauriges Lächeln ab.
»Du brauchst mir nichts vorzulügen. Wenn du gehen willst … Mich geht es überhaupt nichts an, was du tust und mit wem du ausgehst. Keine Mutter verabredet sich mit ihrem Sohn am Abend auf dem Markt, wenn alle Buden geschlossen sind.«
»Es gibt solche und solche Mütter. Und meine ist offenbar so. Sie möchte nicht gesehen werden. Eigentlich hast du recht. Keine Mutter verabredet sich mit ihrem Sohn am Abend auf dem Markt. Und wahrscheinlich hat sie es gerade deshalb getan.«
Ruslan geht auf Andrej zu und umarmt ihn. Er schließt die Augen. Doch Andrej reagiert nicht. Er steht starr wie ein Stein da. Er bringt es kaum fertig, Ruslan zu berühren. Ruslan lässt ihn los und streckt ihm in einer Hand eine Muschel entgegen. Es ist die Muschel, die er von Akif bekommen hat.
»Früher sagte man da, von wo ich herkomme, dass Muscheln den Widerhall der Dinge in sich bewahren.«
Andrej rührt sich nicht. Ruslan legt die Muschel auf den Tisch, öffnet die Wohnungstür und geht die
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