Dreikönigsmord (German Edition)
hatten sich dort versammelt. Instinktiv spürte Jo die Wut, die von der Menge ausging, so wie sie es als Polizistin bei gewaltbereiten Demonstranten kennengelernt hatte. Mit gesenktem Kopf ging sie weiter.
»Josepha Weber … Hexe … Pater Lutger wurde mit durchgeschnittener Kehle vor dem Dominikanerkloster gefunden«, redeten die Leute erregt durcheinander. Was … Der Pater ist ermordet worden? Noch dazu auf die gleiche Weise wie Anselm, Frowin und Anna? Gedanken wirbelten durch Jos Kopf. Das warf nun endgültig alle Theorien über den Haufen, die sie und Lutz bisher entwickelt hatten.
Jo war versucht, umzukehren und zur Grünen Traube zu eilen, um die neue Entwicklung mit ihrem Kollegen zu besprechen, als sie wieder die Worte »Josepha Weber« und »Hexe« hörte. Nun erst begriff sie: Die Leute dachten, dass sie den Pater umgebracht hatte! Nur nicht auffallen … Langsam weitergehen … Ich bin eine ganz gewöhnliche Frau, die wegen irgendwelcher Besorgungen unterwegs ist …
Endlich hatte sie die andere Seite des Platzes erreicht. Jo atmete auf. Das Stadttor war nicht mehr weit entfernt. Sie war eben in die schmale Straße eingebogen, die direkt dorthin führte, als ein Mann aus einem Fachwerkhaus trat und den Weg in Richtung der Sebastianskirche einschlug. Auch das noch … Ihr Schwager Kurt … Vorsichtig schielte Jo zu ihm hin. Sein aufgedunsenes Gesicht trug einen sehr zufriedenen Ausdruck. Bestimmt hatte er die Neuigkeiten schon vernommen. Sollte sie umkehren? Nein, damit würde sie nur erst recht seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Langsam weitergehen und zu Boden sehen …
Jo war fast auf einer Höhe mit ihrem Schwager, als eine besonders heftige Böe durch die Gasse wehte. Der Wind riss ihr die Kapuze aus der Hand. Jo griff sofort nach ihr, doch wieder fuhr der Wind in den Stoff und drückte die Kapuze auf ihren Rücken.
»Schlimmes Wetter, nicht wahr …«, setzte Kurt an. Dann weiteten sich seine Augen perplex.
Jo wartete nicht ab, bis die Erkenntnis zu seinem Gehirn durchdrang, sondern raste los. Sie hatte etwa vier Meter zurückgelegt, als sie ihn hinter sich schreien hörte: »Da ist Josepha, die Hexe! Haltet sie fest!« Super Verwandtschaft … Gut, dass sie Einzelkind war …
Nun hörten die Menschen auf dem Kirchplatz Kurts Geschrei. Die Menge stieß ein wütendes Brüllen aus, das Jo den Magen umdrehte. Weiter vorn luden zwei Männer Säcke von einem Karren. Die beiden merkten auf und verstellten ihr breitbeinig den Weg. An den Kerlen würde sie auch mit Hilfe von Aikido nicht vorbeikommen.
Linker Hand erspähte Jo einen Durchgang. Sie hetzte hinein und glitt fast auf einer Eisplatte unter dem Schnee aus.
»Bleib sofort stehen, du verdammtes Weib!«, brüllte Kurt dicht hinter ihr.
Niemals …! Im letzten Moment gelang es Jo, ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. Während sie rasch über die Schulter blickte, sah sie, wie ihr Schwager stolperte und im Matsch hinschlug. Weiter! Nur weiter … Jo hatte das Ende des schmalen Wegs erreicht. Schräg gegenüber tat sich ein anderer Durchgang auf. Sie rannte auch ihn entlang. Von überallher meinte sie, das Geschrei: »Hexe! Hexe!« zu hören. So musste sich also ein Fuchs fühlen, der von einer Meute gejagt wurde.
Die Gasse, in der sie sich jetzt befand, war nicht weit entfernt vom Fluss. Vielleicht, wenn es ihr gelang, sich zur Grünen Traube durchzuschlagen … Hinter sich hörte sie plötzlich Hufschläge. Oh, nein … Gegen einen Verfolger zu Pferde besaß sie keine Chance. Jo rannte noch schneller, glitt wieder fast aus im Schnee. Verzweiflung erfasste sie.
»Josepha …« Nun war das Pferd neben ihr. Ein riesiger Rappe. Sie spürte den heißen Atem des Tiers in ihrem Nacken.
»Josepha, lauft doch nicht vor mir weg!« Als Jo die samtige Stimme erkannte, blieb sie stehen und schluchzte vor Erleichterung. »Ihr seid es …«
»Ja, ich habe nach Euch gesucht.« Leonard beugte sich vor und zog sie auf sein Pferd. Zitternd schmiegte sich Jo an ihn. Bei ihm war sie sicher.
Schon bei Anbruch der Dämmerung, als der Junge durch die Gassen gestreift war, um nach essbaren Abfällen zu suchen, hatte er das Gerücht gehört, Josepha Weber sei eine Hexe und habe einen Geistlichen umgebracht. Der Junge konnte das Gerede nicht recht glauben. Denn Josepha Weber war doch einer der wenigen Menschen, die gut zu ihm gewesen waren.
Ziellos stromerte er weiter durch die Stadt. Seinen Hunger hatte er vergessen. Als er sich in der Nähe der
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