Dreikönigsmord (German Edition)
abhalten können, sie zu dem Kloster zu begleiten. Als Katrein erkannt hatte, dass all ihre Überredungsversuche nichts fruchten würden, hatte sie Heinrich eingeschärft, gut auf ihre Herrin achtzugeben. Der Knecht – ein kleiner, braungebrannter Mann mit einem Gesicht wie ein verhutzelter Apfel – hatte Katreins Redefluss stoisch über sich ergehen lassen. Jo konnte nicht einschätzen, ob er sich darüber freute, dass »seine Herrin« wieder einigermaßen gesund war, und er die Fahrt zu dem Kloster gern unternahm, oder ob er bei dem kalten Wetter lieber in der warmen Stube geblieben wäre. Jedenfalls lenkte er den stämmigen Braunen sicher die enge, vereiste Gasse entlang.
Eben passierten sie einen kleinen Platz. Das schmale, aus hellem Kalkstein erbaute Haus, das dort hinter einem Brunnen stand, kam Jo bekannt vor. Wenn sie sich richtig erinnerte, galt es als das älteste Gebäude von Ebersheim. Ansonsten erkannte sie nur den Dom mit dem eingerüsteten Turm sowie einige andere gotische und romanische Kirchen. Aber auch sie waren gewiss Projektionen ihres Unterbewusstseins. Das konnte ja alles nicht wahr sein!
Jo verkroch sich tiefer in ihre Kleidungsschichten. Der Wind, der die tiefhängenden dunkelgrauen Wolken vor sich herwehte, war irritierend kalt und real. Und auch das Treiben auf den Straßen wirkte sehr gegenständlich.
Ja, es herrschte ein derartiges Durcheinander, dass es jedem pflichtbewussten Verkehrspolizisten Schweißperlen auf die Stirn getrieben hätte. Kreischende Kinder schlitterten auf Brettern einen steilen Weg hinab und entgingen nur knapp dem Zusammenstoß mit einem holzbeladenen Karren. Ein Junge trieb eine Schar Gänse durch die Gasse. Schweine gruben ihre Schnauzen in den matschigen Schnee. Magere Hunde streunten herum. Ein Reiter drängte sich an einer Gruppe schwatzender Frauen vorbei, und ein Karren voller Fässer und ein anderer, der prall gefüllte Säcke geladen hatte, fuhren an der nächsten Straßenkreuzung fast ineinander, woraufhin die beiden Wagenlenker in ein wüstes Geschimpfe und Gefluche ausbrachen und Anstalten machten, aufeinander loszugehen.
Heinrich kommentierte dies mit einem abgeklärten Kopfschütteln und lenkte den Schlitten gemächlich um den Aufruhr herum und in eine weitere Gasse. Auf beiden Seiten lagen niedrige Fachwerkhäuser und verschneite Gärten. Die Gasse – dies erkannte Jo jetzt – hatte den gleichen Verlauf wie die, der sie und Lutz an jenem Sonntag mit dem Passat gefolgt waren. Hinter den letzten Häusern gingen die Gärten in Weinberge über. Tief unter sich in der Ebene konnte Jo den Fluss sehen. Er wirkte schmaler, als sie ihn im Gedächtnis hatte. Viele Bäume wuchsen an seinen Ufern, und Seitenarme mäanderten durch die von Hecken durchzogenen Felder und Wiesen.
Jenseits einiger Äcker, auf der Bergkuppe, begann der Wald. Es dauerte nicht lange, bis sie die Stelle erreicht hatten, wo der Weg steil abfiel. Heinrich stieg vom Bock, zog die Bremsklötze und fasste dann den Braunen am Halfter, um ihn die glatte Straße hinunterzuführen. Wo der Abhang in die langgezogene Mulde überging, war der Unfall geschehen.
Unwillkürlich zitterte Jo, während sie glaubte, noch einmal die Wucht des Aufpralls zu spüren. Wenn sie sich in der Realität befände, würde sie dort unten umgerissene Büsche und abgeknickte junge Stämme sehen. An einem der großen Bäume würde die Rinde abgerissen sein, und in dem freigelegten Holz würden Metall- und Lacksplitter stecken wie in einer offenen Wunde. Doch die Bäume und Sträucher standen dicht und unversehrt zu beiden Seiten des Weges. Der Wind wehte Schnee wie feinen Staub von den Ästen, und ein Hase hoppelte friedlich durch das Unterholz.
Jo war erleichtert, als sich der Knecht am Fuß des Abhangs wieder auf den Bock schwang und den Braunen in einen leichten Trab verfallen ließ. Noch nicht einmal im Traum wollte sie den Unfall ein weiteres Mal durchleben müssen.
Wenig später erreichten sie schließlich die Abzweigung zu dem Kloster. Der schmale Weg verlief wie in einem Tunnel zwischen den Bäumen. Der Untergrund war uneben, und Jo wurde gehörig durchgeschüttelt. Gleich darauf endete der Wald, und ein gerodetes, weitläufiges Tal erstreckte sich vor ihnen, an dessen Ende das Kloster lag. Es war kleiner, als Jo es kannte. Der gedrungene Turm mit der barocken Zwiebelhaube war verschwunden. Beidseits des Portals standen nun zwei schlanke romanische Türme mit Kupferdächern. Doch wie auch im 21.
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