Dreikönigsmord (German Edition)
verkleidet war. Geschnitzte, rot und golden bemalte Rosetten verzierten das Holz. Der Schein eines Feuers huschte darüber.
»Geht es, oder wollt Ihr noch einmal von dem Schnaps trinken?«
Jo wandte den Kopf. Die alte Nonne, die ihr in dem Klostergarten begegnet war, saß neben dem Bett.
»Wer sind Sie überhaupt? Und wie bin ich hierhergekommen?«, stammelte sie.
Die Ordensfrau musterte sie mit leicht schiefgelegtem Kopf. »Um Eure erste Frage zu beantworten: Ich bin Agneta, die Äbtissin dieses Klosters. ›Ehrwürdige Mutter‹ ist die angemessene Anrede. Falls sich Eure zweite Frage nur auf dieses Zimmer bezieht: Zwei meiner Nonnen haben Euch in meine Gemächer getragen. Aber falls Ihr eigentlich wissen wollt, wie Eure Seele aus einem fernen Jahrhundert hierhergelangt und in den Körper der Weberswitwe Josepha geschlüpft ist: Diese Frage kann ich Euch nicht mit Bestimmtheit beantworten. Allerdings glaube ich, dass Euch die Vorsehung in diese Zeit geschickt hat.«
»Was wollt Ihr denn damit sagen? Ich meine … Woher wisst Ihr, dass ich aus einer anderen Zeit stamme?« Jo biss sich auf die Lippen. Was redete sie da? Dieser Traum wurde einfach immer aberwitziger. Nun fingen auch die anderen Traumgestalten an, zu halluzinieren.
Ein leichter Spott glomm in den Augen der Äbtissin auf, während sie Jos Hand tätschelte. Ihre Haut war trocken und ein wenig rau, wie altes Papier. Sie fühlte sich sehr real an. »Ich weiß genau, was Ihr denkt, Kindchen. Aber dies ist kein Traum. Nein, spart Euch Eure Widerworte. Lasst mich Euch berichten.«
»So? Da bin ich aber gespannt«, erwiderte Jo sarkastisch. Doch wieder breitete sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen aus.
»Manieren lernt man in Eurer Zeit anscheinend nicht.« Die Äbtissin bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Aber wie auch immer … Die Vorsehung weiß bestimmt, was sie tut.«
Sie besann sich kurz, ehe sie weiterredete: »Gestern Morgen, während der Laudes, flehte ich Gott um Hilfe an. Plötzlich hatte ich eine Vision. Ich sah eine Frau, deren Glieder wie vom Veitstanz geschüttelt wurden, am Brunnen im Kräutergarten stehen. Eine Stimme sprach zu mir, dass jene Frau aus einer Zeit weit in der Zukunft stamme. Sie besäße die Fähigkeiten, jenes Verbrechen aufzuklären, das sich vor kurzem in diesem Kloster ereignet hat.«
»Hier ist ein Verbrechen geschehen?« Jos Mund wurde ganz trocken.
Die Äbtissin nickte. »Ja, ein junger Mann wurde ermordet. Vor zwei Tagen.«
Das Skelett, das an jenem Sonntagmorgen bei den Grabungsarbeiten gefunden worden war, war das eines jungen Mannes gewesen. Jo spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Aber wahrscheinlich hatte sich in diesem Kloster im Laufe der Jahrhunderte nicht nur ein Mord ereignet. Betont kühl fragte sie: »Wo wurde denn der Leichnam gefunden?«
Die alte Nonne bedachte sie wieder mit einem scharfen Blick. »In der Nähe der Apsis bei einigen Schuppen.«
Sie musste Gewissheit haben. »Zeigen Sie mir den Ort«, befahl Jo rau.
Die Räume der Äbtissin waren, wie Jo erkannte, als sie das Gebäude verließen, in dem heutigen Museum gelegen. Die Wolkendecke hatte sich gelichtet. Während sie den Hof vor der Kirche überquerten, schien dann und wann die Sonne hervor. Die alte Nonne geleitete sie zu einer Treppe. Obwohl die Steinstufen von einer dünnen Schneeschicht überzogen waren, bewegte sich die Äbtissin – gestützt auf ihren Stock – überraschend behände.
Die Treppe endete in der Nähe der Apsis. Jo folgte der alten Nonne über eine verschneite Wiese bis zu einer Ansammlung von Fachwerkgebäuden und Bretterschuppen. Vor einem der Schuppen blieb die Äbtissin schließlich stehen. Mit ihrem Stock deutete sie auf eine unebene Stelle im Schnee. »Hier, neben der Tür, fand eine meiner Nonnen – Schwester Constantia – den Toten. Jemand hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt.«
Jo blickte sich um. Auf der anderen Seite der Wiese begrenzte eine Steinmauer das Klostergelände. Sicher, die Gebäude hatte es in ihrer Zeit nicht gegeben. Dennoch war es unverkennbar, dass dies genau der Ort war, wo der Bagger das Skelett aus dem Boden gegraben hatte. Für einen Moment meinte sie, die bräunlich verfärbten Knochen vor sich zu sehen. Ein Sonnenstrahl brach sich in den Glasfenstern der Apsis und blendete Jo so stark, dass sie die Augen schließen musste. Der Alkohol brannte in ihrem Magen, und ihr wurde übel.
»Kind, was habt Ihr denn? Ihr seid ja kalkweiß«, hörte sie die Äbtissin
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