Dreikönigsmord (German Edition)
einer fernen Zukunft gesehen«, erwiderte die alte Frau.
»Besonders zu wundern scheint Ihr Euch darüber ja nicht.« Lutz Jäger streckte seine langen Beine aus.
»Es kommt hin und wieder vor, dass Menschen durch die Jahrhunderte reisen. Vieren bin ich vor Euch schon begegnet.«
»Die Äbtissin des Klosters Waldungen wusste auch, dass wir nicht hierher gehören«, mischte sich Jo ein. »Sie hatte angeblich eine Vision.«
»Ja, ich habe gehört, dass diese Äbtissin über bemerkenswerte Fähigkeiten verfügen soll.« Die alte Zigeunerin legte den Kopf leicht schief.
»Könnt Ihr uns vielleicht erklären, warum wir durch die Zeit reisen?«, fragte Jo heftig. »Das würde mich nämlich wirklich brennend interessieren.«
»Ich schätze, Ihr besitzt ganz einfach diese Gabe …«
»Eine Gabe?«
»Ja, so wie ich die besondere Gabe besitze, Menschen heilen zu können.«
So beiläufig, wie die Zigeunerin redete, hörte es sich an, als habe sie eben bei ihr und Lutz ein Talent zum Malen oder Tanzen entdeckt. Jo benötigte einige Augenblicke, um diese Information zu verdauen. Falls die alte Frau nicht völligen Unsinn sprach, handelte es sich bei der Fähigkeit, durch die Zeit zu reisen, auf keinen Fall um eine Gabe, sondern höchstens um einen Fluch. »Aber warum sind wir dann ausgerechnet hier gelandet?«, hakte sie nach. »Warum nicht meinetwegen im 19. Jahrhundert?« Was viel angenehmer gewesen wäre …
»Aus welchem Grund interessiert Ihr Euch für den Töpfer Anselm?«, antwortete die Alte mit einer Gegenfrage. »Er ist schließlich nicht in der Zeit gereist.«
»Er wurde umgebracht«, erklärte Lutz Jäger. »Äbtissin Agneta bat uns, seinen Mörder zu finden.«
»Oh …« Ein Anflug von Trauer und Bestürzung huschte über das runzelige Gesicht. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Ein Mord ist etwas Widernatürliches und bringt die Ordnung der Dinge durcheinander. Wahrscheinlich seid Ihr hier, um diese verletzte Ordnung wiederherzustellen.«
»Aber Morde geschehen leider doch ständig!«, fuhr Jo auf.
»Habt Ihr mit Anselm auf irgendeine Weise in Eurem Jahrhundert Kontakt gehabt?«
Lutz Jäger kam Jo mit seiner Antwort zuvor: »Ja, wir wurden verständigt, als sein Skelett auf dem Gelände des Klosters Waldungen gefunden wurde.«
»Dann hat er Euch hierhergebracht.« Die Alte nickte nachdenklich. »Eine ruhelose Seele kann eine große Energie entwickeln.«
»Die Äbtissin meinte, die Vorsehung wäre es gewesen«, bemerkte Jo sarkastisch.
»Nun, sie ist eine fromme Frau. Aus ihrer Warte stellt sich das Geschehen eben so dar.« Die Zigeunerin zuckte mit den Schultern. »Die Vorsehung, Gott, die Kräfte der Welt … Nennt es, wie Ihr wollt!«
»Ich schlage vor, statt uns in metaphysischen Spekulationen zu verlieren, sollten wir uns lieber wieder dem Mordfall zuwenden.« Lutz Jäger sah erst Jo, dann die alte Frau an. »Ihr habt Anselm also gekannt. Warum ist er denn zu Eurem Lager gekommen?«
»Wie ich gerade sagte … Ich stehe im Ruf, heilkundig zu sein und nicht viel Geld für meine Dienste zu nehmen. Zumindest nicht von den Armen.« Die Alte verzog ihren zahnlosen Mund zu einem Lächeln. »Anselm, nun ja … Ein eitriger Ausfluss aus seinem Schwanz plagte ihn.«
»Tripper …« Lutz Jäger nickte nachdenklich.
»Wie auch immer Ihr diese Krankheit bezeichnen mögt.« Die Alte blinzelte.
»Aber Anselm war doch in diese junge Nonne verliebt«, zweifelte Jo. »Und ich kann nicht recht glauben, dass …«
»Oh, bei der Nonne hat er sich die Krankheit bestimmt nicht geholt.« Die Alte winkte ab. Sie erhob sich und schob die Stoffbahn vor dem Eingang des Planwagens beiseite. Dann stieß sie einen schrillen Pfiff aus, ehe sie mit ihrer krächzenden Stimme rief: »Jakob, Gernot …« Mit einem Ächzen ließ sie sich wieder auf den Strohsack sinken. »Jedenfalls bin ich froh, dass Ihr nach dem Mörder des Jungen sucht. Normalerweise schert sich kein Mensch darum, wenn einem von uns Armen und Heimatlosen ein Leid zugefügt wird.«
Der Rotschopf, der zu der Gruppe am Feuer gehört hatte, steckte seinen Kopf durch die Öffnung und bedachte Lutz Jäger mit einem wütenden Blick.
»He, keine Feindseligkeiten mehr!«, fuhr die Alte ihn an. »Die beiden stehen auf unserer Seite. Nun mach schon. Schieb deinen dünnen Körper herein – und Jakob auch.« Die jungen Männer taten, wie ihnen geheißen, und blieben geduckt unter dem Stoffdach stehen. Jakob war ein blonder Kerl, dessen eigentlich hübsches
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