Dreikönigsmord (German Edition)
einigen Minuten hatte sie sich von ihm verabschiedet. Am oberen Ende der Gasse, in der Nähe eines Hauses, dessen heruntergekommene Fachwerkfassade von rot gestrichenen Lampen in ein pseudo-erotisches Licht getaucht wurde. Ihr Kollege hatte verdächtig gut gelaunt gewirkt. Ach, zum Teufel mit ihm und seinen Weibergeschichten! Und mit dieser ganzen verdammten Untersuchung!
Wenn sie wenigstens ihre Polizeimarke aus ihrer Manteltasche ziehen und diese – wem auch immer sie nun gleich im Inneren des Hauses begegnen würde – unter die Nase halten könnte. Stattdessen hatte sie sich wieder eine gewundene Geschichte ausdenken müssen, um ihre Nachforschungen zu begründen.
Die Haustür war nicht verschlossen. Nachdem Jo sie ein Stück aufgezerrt und sich durch den Spalt gezwängt hatte, stand sie in einem engen, spärlich beleuchteten Flur. Eine Holztreppe führte in die oberen Stockwerke. Von dort waren erregtes Stöhnen und Keuchen zu hören. Sie war einige Schritte in Richtung der Treppe gegangen, als ein Mann aus einem Alkoven trat und ihr den Weg versperrte. Mit seinem kahlrasierten Schädel, den kühlen grauen Augen und dem breiten Kreuz hätte der Kerl vor einer Diskothek durchaus hip gewirkt. Sein Wollkittel war ärmellos. Dicke Bronzeringe lagen um seine behaarten, muskulösen Oberarme. Eindeutig nicht der softe, tuntige Typ – falls der Kerl schwul war.
»Was wollt Ihr?«, fuhr er Jo an. Seine Stimme klang rau. Beim Sprechen entblößten seine Lippen eine große Lücke in der oberen Zahnreihe.
»Ich suche nach meinem Cousin … ähm, Vetter …«, begann Jo ihre Geschichte. »Er heißt Anselm, ist einige Jahre jünger als ich, hat schulterlange braune Haare und blaue Augen. Seit einiger Zeit ist er verschwunden. In der Stadt hat man mir gesagt, dass er hier manchmal Unterkunft gefunden hat.«
Der Türsteher-Schrank musterte sie, als wäre sie ein lästiges Insekt. Nein wirklich kein Typ, der Frauen mochte. »Das hier ist keine Herberge.«
»Aber …«
»Verschwindet.« Er deutete auf die Tür.
Jo verlor die Geduld. »Hören Sie«, fauchte sie ihn an. »Es ist mir so etwas von egal, ob Sie schwul sind.« Der Mann glotzte sie verständnislos an, was Jo etwas aus dem Konzept brachte. Verdammt, was war noch einmal das Wort für »schwul« im Mittelalter? »Ich meine homosexuell … sodomitisch … Und was Sie und die anderen Männer hier so alles treiben, ist mir auch völlig egal … Ich suche einfach nach einem jungen Mann, der verschwunden ist, und benötige eine Auskunft …«
»Raus!« In dem Moment, als der Kerl sie grob an der Schulter packte, glaubte Jo, auf dem Treppenabsatz eine Bewegung wahrzunehmen. Aber schon wirbelte er sie herum und schubste sie den Gang entlang. Die Tür wurde aufgerissen. Ein letzter Stoß in ihren Rücken. Sie konnte ihr Gleichgewicht nicht bewahren und sackte in den Schnee. Hinter ihr fiel die Tür krachend ins Schloss.
Fluchend kam Jo wieder auf die Füße. Einen Moment lang gab sie sich der Vorstellung hin, den Türsteher-Schrank wegen Angriffs auf einen Polizisten festzunehmen. Da sie dies nicht weiterbrachte, sah sie sich um. So einfach würde sie nicht aufgeben! Sie musste eine Möglichkeit finden, in das Haus zu gelangen und mit den Lover-Boys und ihren Kunden zu reden. Die Mauer neben dem Gebäude war etwa zweieinhalb Meter hoch. Davor war von der Gasse geschippter Schnee aufgetürmt. Vorsichtig stieg sie auf den kleinen Wall. Der Schnee war festgefroren und glatt, aber wenigstens sank sie nicht darin ein. Sie streckte sich. Während sie mit den Händen die Kante der Mauerkrone umfasste, suchte sie mit den Füßen an den Steinen nach Halt. Glücklicherweise war die Mauer uneben, so dass sie sich trotz ihrer klobigen Schuhe daran abstützen konnte.
Nach wenigen Augenblicken kauerte Jo auf der Krone. Unter ihr lag ein Hof. Schnee, der sich als graue Masse von der dunkleren Umgebung abhob, bedeckte den Boden. Sie ließ sich an der Mauer hinabgleiten und landete geräuschlos auf dem weichen Untergrund. Unbefugtes Betreten eines Grundstücks , schoss es ihr durch den Kopf. Hausfriedensbruch … Zu ihrer eigenen Überraschung war ihr dies völlig gleichgültig. Ja, eine tiefe Befriedigung erfüllte sie.
Jos Hochgefühl verflog, als sich eine Tür öffnete und jemand in den Hof trat. Etwa der Schrank? Sie wich zurück, ertastete einen Holzstapel neben der Mauer und schlüpfte in den Winkel. Schritte, die im Schnee knirschten, kamen auf sie zu und blieben ganz in
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