Dreikönigsmord (German Edition)
Küche.
Die Köchin, die Bratenfleisch in einer Beize wendete, bedachte den Kleinen mit einem misstrauischen Blick. »Bettlerpack …«, murmelte sie.
»Magdalena«, Jo hob ein wenig die Stimme, »die Mittagssuppe ist doch bestimmt schon fertig. Gib dem Kind davon zu essen!«
Missmutig watschelte die Köchin zu dem Bronzekessel in der Feuerstelle. Nachdem sie von der Suppe in eine Holzschale geschöpft hatte, deutete sie erst mit dem Zeigefinger auf den Jungen und dann auf das äußerste Ende einer Bank. »Du setzt dich dorthin und isst und bewegst dich nicht von der Stelle. Andernfalls setzt es was!«
Wortlos schlüpfte der Junge auf die Bank und begann, gierig zu essen.
»Bin gleich wieder da«, sagte Jo an Magdalena gewandt und hastete in den Laden, wo sie eine Decke und ein Paar Strümpfe von einem der Regale nahm. Als sie wieder in die Küche zurückkehrte, verzog die Köchin das Gesicht und deutete mit einem Nicken auf den Jungen. »Der Bengel vertilgt schon seine dritte Schale Suppe.«
Jo holte einen Laib Brot und eine Wurst aus der Speisekammer und packte die Nahrungsmittel zusammen mit der Decke, den Strümpfen und einem Geldstück in einen Korb, den sie neben dem Jungen auf die Bank stellte.
»Hier, das ist für dich. Und wenn du wieder einmal Hunger hast oder nach einem Schlafplatz suchst, dann komm zu meinem Haus.« Der Junge schnappte sich den Korb und wetzte zur Tür.
»He«, rief die Köchin ihm nach. »Wie wär’s mit einem Dankeschön?«
»Ach, lass ihn«, wehrte Jo ab.
Schon dicht bei der Tür blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen und starrte sehnsüchtig auf einige Kohlköpfe, die in einer Schütte lagen. Jo tauschte einen verwunderten Blick mit der Köchin. »Du kannst dir gern einen davon nehmen«, sagte sie.
Mit einer fast andächtigen Bewegung griff der Junge nach einem der Kohlköpfe und legte ihn in den Korb.
»Willst du das Gemüse deiner Familie mitbringen?«, meinte die Köchin etwas besänftigt.
»Nein, ich will damit Fußball spielen«, hauchte der Junge, ehe er endgültig davonrannte.
»Was hat der Bengel gesagt?« Irritiert sah die Köchin Jo an.
»Ähm, ich glaube, ich habe ihn auch nicht richtig verstanden«, murmelte Jo.
Spät am Abend lehnte sich Jo in ihrem Stuhl am Kopfende der Tafel zurück und trank noch einen Schluck Rotwein. Sie fühlte sich angenehm müde und zufrieden. Von der Küchendecke baumelte der Adventskranz, an dem alle vier Kerzen brannten – die einzige Beleuchtung in der Küche, denn Jo hatte schon alle Kerzen auf dem Tisch gelöscht. In den Schatten bei der Feuerstelle stapelte sich noch schmutziges Geschirr, da alle Bediensteten – darunter auch Katrein – zur Mitternachtsmette in der Gertrudiskirche gegangen waren. Jo hatte dankend darauf verzichtet mitzukommen, als sie erfahren hatte, dass Pater Lutger die Predigt halten würde.
Ja, alles in allem war es ein richtig netter Abend gewesen. Die Köchin hatte die Schleusen ihrer Speisekammer geöffnet und die Vorräte aufgefahren, die sie dort seit Wochen gehortet hatte – Ente, Gans und Huhn, Forelle und Karpfen, Braten, Würste, Gemüse und diverse Kuchen. Wahrscheinlich habe ich allein an diesem Abend mindestens zwei Kilo zugelegt, dachte Jo. Und während der nächsten beiden Tage würde die Völlerei noch weitergehen. Ach egal, das Leben war so kurz … Sie trank noch einen Schluck Wein.
Nach dem Essen hatte sie zusammen mit den Knechten und Mägden Weihnachtslieder gesungen, der alte Heinrich, der Jo damals zum Kloster gefahren hatte, hatte dazu auf seiner Fiedel gespielt, und anschließend hatte die Bescherung stattgefunden. Jos Geschenke hatten alle guten Anklang gefunden. Ihr selbst hatte Katrein im Namen aller Bediensteten eine fein geschmiedete goldene Kette geschenkt und ihr dafür gedankt, dass sie eine so gute Herrin sei. Was Jo nun doch sehr gerührt hatte, auch wenn der Löwenanteil daran natürlich ihrer Ahnin gebührte.
Tatsächlich war der Abend unvergleichlich viel netter verlaufen, als wenn sie ihn mit ihrer Mutter und Großmutter verbracht hätte. Und auch viel schöner als das letzte Weihnachten, das sie zusammen mit Friedhelm in einem Fünf-Sterne-Wellness-Hotel auf Sylt verlebt hatte. Wer von ihnen beiden hatte damals eigentlich dieses yuppie-spießige Haus mit seinen geleckten Stein- und Edel-Parkettböden, den Designer-Möbeln und den langweilig dezenten Farben ausgesucht? Yuppie-spießig, langweilig …? Jo erinnerte sich plötzlich daran, dass sie das Hotel
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