Dreiländermord
wollen, aber mit dem Vermerk ›gestorben
bzw. Nachfolger uninteressant‹ durchgestrichen, was Böhnke nachdenklich machte.
Es konnte sich bei dem von Geffert gesuchten Mann demnach eigentlich nur um den
Vorgänger des amtierenden Landrats handeln.
4.
Lange suchte Böhnke nach einem leeren Notizzettel auf dem aufgeräumten
Schreibtisch. Da er keinen fand, griff er kurzerhand zu einem der gebrauchten Briefumschläge
und notierte sich die zweite Rufnummer aus Belgien.
Sollte er? Böhnke zögerte und entschied sich zu spät. Er hatte noch
nicht einmal die Vorwahl für Belgien ins Telefon eingetippt, als es an der Wohnungstür
stürmisch klingelte. Das fehlte noch, dass ihm Ömmes die Polizei auf den Hals geschickt
hatte mit dem Vorwurf, es treibe sich ein Verbrecher in den Räumen seines toten
Ex-Geliebten herum.
»Aufmachen!«, dröhnte es herrisch durch die Eingangstür, begleitet
von einem kräftigen Trommeln gegen das Holz. »Aufmachen oder ich hole die Polizei!«
Bloß nicht! Schnell zog Böhnke den Schlüssel aus dem Türschloss, öffnete
und sah auf einen jungen Mann, der ebenfalls einen Schlüssel in der Hand hielt.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Wie kommen Sie hier herein?« Der
erregte Mann bombardierte Böhnke mit mehr als berechtigten Fragen. Seine Zornesröte
im Gesicht hatte fast schon die kräftige Farbe seines schulterlangen Haares.
Er würde sich mit diesem Menschen nicht körperlich anlegen, schlussfolgerte
Böhnke. Dazu war sein Gegenpart zu groß und zu stämmig. »Könnte ich Sie auch fragen«,
entgegnete er äußerlich gelassen, während er seinen Denkapparat auf Hochtouren brachte.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Woher haben Sie den Schlüssel?«
Doch der Rothaarige ließ sich mit diesem Gegenangriff nicht aus dem
Konzept bringen. »Zuerst Sie! Oder ich rufe die Polizei«, drohte er erneut.
Böhnke bemerkte, dass hinter der gegenüberliegenden Wohnungstür Bewegung
aufkam. Zugleich klingelte permanent Gefferts Telefon. Ömmes schien keine Ruhe geben
zu wollen.
»Kommen Sie erst einmal herein«, bat er freundlich und zog den Mann
am Ärmel in die Wohnung. Schnell verschloss er die Tür.
»Ich ermittele im Todesfall Geffert«, gab sich Böhnke äußerst förmlich,
in der Hoffnung, der andere würde ihm ein legales Handeln unterstellen. »Ich wollte
schauen, ob ich in seiner Wohnung Anhaltspunkte finde.« Welche Anhaltspunkte er
meinte, ließ er offen. Schließlich gab es im Zusammenhang mit dem Selbstmord keine,
was der Mann nicht zu wissen brauchte.
Der Kommissar a. D. zückte kurz einen längst ungültigen Ausweis.
»Böhnke mein Name. Kriminalpolizei.« Er hätte den Ausweis bei seiner
Pensionierung abgeben müssen, es jedoch schlichtweg vergessen. Seine Behörde hatte
später nicht mehr auf die Rückgabe gedrängt und ihm den Ausweis quasi als Erinnerungsstück
überlassen.
Wenn die Geschichte jetzt aus dem Ruder lief, würde es brenzlig werden,
befürchtete er. Amtsanmaßung war das geringste Delikt, das man ihm vorwerfen könnte,
ihm, dem im Dienst stets untadeligen, gewissenhaften und seriösen Staatsdiener.
Böhnke hatte Glück.
Der junge Mann fiel auf die Täuschung herein. Langsam ebbte seine Erregung
ab. Er reichte Böhnke sogar die Hand zum Gruße. »Geffert mein Name. Ich bin der
jüngere Bruder von Thomas.« Er musterte den alten Kommissar skeptisch, um dann aufzulachen.
»Ist doch irgendwie komisch. Da komme ich gerade von der Dürener Polizei, wo ich
eine Plastiktüte mit den Sachen und der Kleidung von Thomas bekommen habe, und stoße
dann hier in seiner Wohnung auf einen Kriminalen. Bei euch weiß die rechte Hand
wohl auch nicht, was die linke macht«, bemerkte er belustigt mit leichtem hessischen
Akzent, wenngleich bemüht, Hochdeutsch zu sprechen. »Na ja, ehrlich gesagt, tut
es mir zwar irgendwie leid, dass mein Bruder tot ist, aber so richtig trauern kann
ich auch nicht. Der war ja nicht normal, wenn Sie wissen, was ich meine. Der war
vom anderen Ufer. Andererseits: Er war mein Bruder. Ich glaube, ich bin noch zu
jung, um zu wissen, wie es ist, wenn man einen Menschen verliert. Oder ich weiß
noch gar nicht wirklich, was Trauer ist. Im Moment jedenfalls gehe ich locker mit
der Sache um.«
Böhnke nickte stumm. Ob sein Nicken Zustimmung oder Ablehnung bedeutete,
hätte niemand beurteilen können.
Auf knapp 25 Jahre schätzte er den Bruder des Journalisten. Trotz des
jungen Alters war er etwas kurzatmig, weil er ein wenig zu viel Speck auf den
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