Dreiländermord
Rippen
hatte.
»Sie können es ruhig laut sage: Isch bin etwas zu klein für mein Gewicht«,
sagte der jüngere Geffert, als habe er Böhnkes Gedanken erraten, »und isch kann
Ihnen noch etwas verrate«, er geriet mehr und mehr in einen hessischen Zungenschlag,
»mein Bruder, der het keinen Selbschtmord begange. Isch glaub es nicht.«
Typische Reaktion eines Angehörigen, analysierte Böhnke. Ein Selbstmord
als freiwilliges Ausscheiden aus einem scheinbar nutzlos gewordenen Leben wurde
von der Familie einfach nicht als Wahrheit oder Tatsache akzeptiert. Das Annehmen
des Unveränderlichen brauchte seine Zeit.
»Wie kommen Sie denn darauf?« Böhnke wollte mehr Anteilnahme heucheln
als eine sachliche Unterhaltung über Gefferts Behauptung in Gang zu bringen.
Gefferts zuckte die Schulter und schüttelte sein langes, rotes Haar.
»Nennen Sie es Ahnung. Als isch eben die Sachen von Thomas bei der Polizei bekomme
hab, hab isch das Handy angemacht. Und wissen Sie, was passiert ist?«
Woher sollte Böhnke es wissen?
»Nichts ist passiert. Das Handy sah aus wie nicht benutzt. Keine Telefonnummern
im Verzeichnis, keine ein-oder ausgegangene Anrufe, keine SMS. Nichts, absolut
nichts. So etwas gibt es nicht. Da hat jemand das Handy radikal aufgeräumt.«
»Oder Ihr Bruder hat von sich aus reinen Tisch gemacht, um seine gesamte
Vergangenheit zu löschen«, hielt Böhnke entgegen. »Außerdem hätte dieser Jemand
ja auch das Handy verschwinden lassen können, statt derart auffällig zu agieren.«
Für seine Annahme sprach wahrscheinlich mehr als für Gefferts Theorie.
»In diesem Fall hätte er das Ding doch gegen einen Felsbrocken schmeißen
oder den Chip vernichten können, und es wäre auch vorbei gewesen mit den Dateien.
Also.«
Böhnke wollte nicht länger über diese Szene diskutieren, die zu nichts
führte. »Was sagen denn meine Kollegen zu Ihrer Ansicht?«
»Die sagen klipp und klar, der Fall sei abgeschlossen.
Das Handy hätte keinerlei Relevanz. Es gäb ja einen eindeutigen Abschiedsbrief und
keinerlei Hinweise auf eine Fremdeinwirkung. Ihre Kollegen haben mir allen Ernstes
und ohne jegliches Mitgefühl berichtet, mein Bruder sei auf den Parkplatz gefahren,
habe sich einen passenden Baum gesucht und sich daran aufgebaumelt.« Gefferts hessisches
Intermezzo war wohl vorbei. Ernst und konzentriert fuhr er fort.
Ob er konkreter werden könnte, hätte Böhnke am liebsten nachgehakt,
aber er verkniff sich die Frage.
Der junge, dicke Mann atmete schwer, sein Gesicht verschwand fast hinter
der roten Haarpracht. »Haben Sie den Abschiedsbrief gelesen?«
»Nein«, antwortete der Kommissar a. D., »ich weiß nur, dass er eindeutig
sein soll.«
»Ich habe ihn heute mitbekommen. Hier ist er.« Zielsicher griff Geffert
in die Plastiktüte.
»Lesen Sie bitte vor!«, forderte er Böhnke auf.
Dieser Bitte Folge zu leisten, war Böhnke unangenehm. Aber was sollte
er tun?
»›Es macht alles keinen Sinn mehr. Ich mache Schluss. Thomas Geffert‹«,
las er mit lauter Stimme.
»Das steht da?«, fragte der Rothaarige.
»Ich kann nichts anderes lesen«, entgegnete Böhnke. Worauf wollte Geffert
bloß hinaus?
Entschlossen wandte sich der junge Mann den Unterlagen seines Bruders
in der Ablage zu und langte nach einigen Papieren. Er holte den Mietvertrag hervor.
»Sehen Sie, der ist ordentlich und eindeutig von meinem Bruder unterschrieben. Nicht
wahr?«
Böhnke nickte zustimmend.
Geffert suchte in den beruflichen Unterlagen seines Bruders und griff
nach dem Arbeitsvertrag. »Ordentlich und eindeutig unterschrieben? Oder?«
»Ordentlich und eindeutig unterschrieben«, echote Böhnke nach einem
prüfenden Blick.
Geffert griff sich den Vertrag für das Telefon und die Vereinbarung
mit den Stadtwerken über die Lieferung von Gas, Wasser und Strom. »Alle Papiere
sind eindeutig unanfechtbar mit der Unterschrift meines Bruders versehen.«
»Ich kann nicht widersprechen«, beschied Böhnke.
Langsam wurde er ungeduldig. Was hatte der Kerl bloß vor? Jetzt fiel ihm auch ein,
woran er ihn erinnerte. Er hatte während ihres gesamten Gesprächs nach einer Beschreibung
gesucht und in diesem Moment fiel sie ihm ein: Geffert ähnelte einem Fleischklops.
»Gut.« Zufrieden legte der inzwischen schwitzende junge Mann die Unterlagen
beiseite und nahm wieder den Abschiedsbrief seines Bruders zur Hand. »Eindeutig,
nicht wahr?« Fast triumphierend stellte er die Frage.
In der Tat war es eindeutig. Beim Betrachten fiel Böhnke jedoch
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