Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
strahlender Tag, windstill und für die Jahreszeit noch angenehm mild. Max hatte keinen Hut auf und weder Handschuhe noch Stock bei sich – er trug einen grauen Anzug mit Weste, ein Hemd mit weichem Kragen und Strickkrawatte –, also beschränkte er sich darauf, der Frau im Vorbeischlendern kurz zuzunicken. Sie war mit einem schicken Kaschakostüm aus dreiviertellanger Jacke und geradem Faltenrock bekleidet und las in einem Buch, das auf ihrem Schoß lag. Als der Schatten des Mannes über sie fiel, hob sie das schmale Gesicht unter der schmalen Krempe des Filzhutes und sah ihn an. Mag sein, dass es das kurze Aufblitzen war, das er in ihren Augen wahrzunehmen glaubte, jedenfalls verhielt er, mit der gebotenen Zurückhaltung und eingedenk der unterschiedlichen Stellung beider an Bord, für einen Moment den Schritt.
»Guten Morgen«, sagte er.
Die Frau, die schon wieder in ihr Buch schaute, antwortete nur mit einem Nicken.
»Ich bin ...«, begann er, plötzlich verlegen. Er fühlte sich auf unsicherem Gelände und bereute bereits, sie angesprochen zu haben.
»Ja«, gab sie gelassen zurück. »Der Herr von gestern Abend.«
Sie sagte Herr, nicht Tänzer, und dafür war er ihr dankbar.
»Ich weiß nicht«, setzte er an, »ob ich Ihnen gesagt habe, wie wundervoll Sie tanzen.«
»Haben Sie.«
Wieder wandte sie sich ihrem Buch zu. Einem Roman, wie er mit einem raschen Blick auf den Titel festgestellt hatte, während sie es halb zugeklappt auf dem Schoß hielt: Die apokalyptischen Reiter von Vicente Blasco Ibáñez.
»Auf Wiedersehen. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre.«
»Danke.«
Er entfernte sich, ohne zu wissen, ob sie ins Buch oder ihm hinterherschaute, und er bemühte sich, eine Hand in der Hosentasche, möglichst ungezwungen und gleichgültig zu wirken. Im Windschatten des letzten Rettungsbootes blieb er stehen, zog ein silbernes Etui hervor – die eingravierten Initialen waren nicht die seinen – und zündete sich eine Zigarette an. Bei dieser Gelegenheit warf er einen verstohlenenBlick gen Bug, zu der Bank, auf der die Frau noch immer mit gesenktem Kopf saß und las. Gleichgültig.
Grande Albergo Vittoria. Max knöpft sich das Jackett zu, als er unter dem goldenen Schriftzug über dem Eisenbogen des Portals hindurchgeht, begrüßt den Wächter und wandert die von hundertjährigen Pinien, anderen Bäumen und Pflanzen aller Art gesäumte Allee entlang. Der Park ist weitläufig und erstreckt sich von der Piazza Tasso bis direkt an den Rand der Steilküste, wo oberhalb der Marina Piccola und des Meeres die drei Gebäude des Hotels aufragen. Im mittleren nimmt Max eine kleine Treppe nach unten und steht in der Empfangshalle vor der verglasten Wand mit Blick in den Wintergarten und auf die Terrassen, wo, ungewöhnlich für diese Jahreszeit, viele Menschen beim Aperitif sitzen. Hinter der Rezeption zu seiner Linken entdeckt er einen alten Bekannten: Tiziano Spadaro. Sie kennen sich aus früheren Zeiten, als Max selbst als Gast in Hotels wie dem Vittoria abzusteigen pflegte. Viele üppige Trinkgelder hatten mit der ungeschriebenen Gesetzen folgenden Diskretion die Hand gewechselt und einer Zuneigung den Boden bereitet, die mit der Zeit immer herzlicher und vertrauter geworden ist. Selbst das freundschaftliche Du – zwanzig Jahre zuvor undenkbar – gehört mittlerweile dazu.
»Na so was, Max. Welch Glanz in unserer Hütte ... Ist lange her.«
»Fast vier Monate.«
»Schön, dich zu sehen.«
»Danke, gleichfalls. Wie geht es dir?«
Schulterzuckend stimmt Spadaro das branchenübliche Klagelied zum Ende der Saison an: weniger Trinkgeld, Wochenendgäste mit jugendlichen Gespielinnen, die Schauspielerinnen oder Models werden wollen, Gruppen brüllenderAmerikaner auf der Neapel-Ischia-Capri-Sorrent-Amalfi-Rundreise, jeden Tag an einem anderen Ort, Frühstück inbegriffen, die andauernd Mineralwasser bestellen, weil sie dem aus der Leitung nicht trauen. Zum Glück – Spadaro weist durch die Fenster in den belebten Wintergarten hinaus – schaffe dieser Campanella-Preis derzeit Abhilfe: Das Duell zwischen Keller und Sokolow fülle das Hotel mit Journalisten und Schachbegeisterten.
»Ich brauche eine Information. Unter der Hand.«
Spadaro sagt nicht »wie in alten Zeiten«, doch in seinem Blick, zunächst überrascht, dann spöttisch, leicht beunruhigt über die unerwartete Bitte, glimmt die frühere Komplizenschaft. Kurz vor der Rente, nach fünf Jahrzehnten in diesem Metier, seit seinen Anfängen
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