Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
herabrinnen.
Langsam geht er zum Fenster, und als er die Vorhänge zurückzieht, bricht das Sonnenlicht mit Macht herein und überflutet die platt gelegene Tagesdecke auf dem Bett, den marineblauen Blazer über der Stuhllehne, den fertig gepackten Koffer neben der Tür, Mechas überall verteilte Sachen: Kleidung, eine Handtasche, Bücher, einen Ledergürtel, ihr Portemonnaie, Zeitschriften. Nach und nach gewöhnen sich seine Augen an das grelle Licht, und er betrachtet die indigoblaue Verschmelzung von Himmel und Meer, die Küstenlinie und den dunklen, von verwischten Blau- und Grautönen umschwebten Kegel des Vesuvs. Die Fähre nach Neapel gleitet langsam davon und zieht den weißen Streifen ihres Kielwassers über die kobaltblaue Fläche der Bucht. Und drei Stockwerke tiefer auf der Hotelterrasse – an dem Tisch neben der marmornen Frauengestalt, die kniend übers Meer blickt – spielen Jorge Keller und sein Lehrer Karapetian Schach, während Irina zusieht. Sie sitzt mit ihnen am Tisch,hat ihren Stuhl aber ein wenig zurückgeschoben, die nackten Füße auf die Kante der Sitzfläche gestellt und die Arme um die Knie geschlungen.
Mecha Inzunza sitzt allein an einem Tisch neben einer Bougainvillea, dicht an der Balustrade. Sie trägt einen dunklen Rock und hat die beige Strickjacke über die Schultern gelegt. Einen Kaffee und aufgeschlagene Zeitungen vor sich, die sie jedoch nicht beachtet. Unbeweglich wie die Frau aus Stein hinter ihr, schaut sie geistesabwesend auf den Golf. Max drückt die Stirn gegen die kalte Glasscheibe und beobachtet sie, und in dieser ganzen Zeit rührt sie sich nur ein einziges Mal: Sie fasst sich in den Nacken, streicht über ihr kurzes graues Haar und senkt gedankenverloren den Kopf, dann hebt sie ihn wieder und verharrt so still wie zuvor, den Blick aufs Meer gerichtet.
Max wendet sich vom Fenster ab, geht zum Stuhl und nimmt seine Jacke. Während er sie überzieht, betrachtet er die Sachen auf der Kommode. Dort liegt, so absichtsvoll auf einen langen weißen Damenhandschuh drapiert, dass er es keinesfalls übersehen kann, das Perlencollier, es reflektiert mit mattem Schimmer das gleißende Tageslicht.
Beim Anblick des Handschuhs und der Kette überkommen den alten Mann, als den er sich zuvor im Spiegel gesehen hat, die Erinnerungen, Bilder früherer Leben, die sein Gedächtnis mit erstaunlicher Schärfe reproduziert. Eigene und fremde Wege finden sich mit einem Mal in einem Lächeln vereint, das zugleich eine schmerzliche Grimasse ist; aber vielleicht ist es auch die Trauer über Verlorenes oder Unerreichbares, die in diesem wehmütigen Lächeln zum Ausdruck kommt. Und so balanciert ein kleiner Junge mit schmutzigen Knien über die wurmstichigen Planken eines im Morast steckenden Bootes; ein junger Soldat stürmt einen leichenübersäten Hang hinauf; eine Tür schließt sich, hinter der eine schlafende Frau zurückbleibt, umhüllt von Mondlicht, so diffus wiesein schlechtes Gewissen. Darauf folgen, begleitet von dem müden Lächeln des Mannes, der seinen Erinnerungen nachhängt, Züge, Hotels, Kasinos, gestärkte weiße Frackhemden, nackte Frauenschultern und das Funkeln der Juwelen im Glanz der Kronleuchter; und ein junges, schönes Paar, das sich, erfasst von einer Leidenschaft, so drängend wie das Leben, in die Augen sieht und im stillen, verlassenen Salon eines Überseedampfers einen noch ungeschriebenen Tango tanzt, während es über das nächtliche Meer fährt. Und indem es umarmt seine Kreise zieht, unwissentlich die Schnörkel einer unwirklichen Welt nachzeichnet, deren schon schwaches Licht endgültig zu erlöschen beginnt.
Doch da ist noch mehr. In der Erinnerung des Mannes, der auf den Handschuh und die Kette blickt, erscheinen auch regenschwere Palmwipfel und ein nasser Hund an einem diesigen Strand, betrachtet von einem Hotelzimmer aus, wo die schönste Frau der Welt wartet, auf zerwühlten Laken, die nach Nähe und Frieden duften, wie aus der Zeit und aus der Welt gefallen, und wo sich der junge Mann, der nackt am Fenster steht, zu ihr umdreht, um sich aufs Neue ihrem wunderbaren, ihrem perfekten Körper zu widmen, dem einzigen Ort des Universums, an dem er sich selbst vergessen kann. Dann drei Elfenbeinkugeln, die auf grünem Tuch sanft gegeneinanderstoßen, und Max, der aufmerksam einen jungen Mann beobachtet, in dessen Gesicht er sein eigenes Lächeln erkennt. Er sieht auch, von ganz nahem, ein Augenpaar wie aus flüssigem Honig, das ihn anschaut, wie ihn kein
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