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Dreimond - Das verlorene Rudel

Dreimond - Das verlorene Rudel

Titel: Dreimond - Das verlorene Rudel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viola L. Gabriel
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vergessen. Aber so wie auf jeden Sommer ein Herbst folgte – obwohl es noch warm war, fröstelte Rosa – ging auch die Sonne früher oder später wieder unter. Morgens ging es ihr nicht schnell genug, bis sie die gemeinsame Hütte verlassen konnte und endlich in Coms war. Am Abend trottete sie, nachdem sie ihr Rad in Sicherheit gebracht hatte, langsam und niedergeschlagen nach Hause zurück.
    Nach Hause? Sie lachte bitter auf. Ja, sie hatten mal ein Heim gehabt, aber das war lange her. Jetzt hausten sie in einer Bruchbude. Aber wenigstens hatten sie ein Dach über dem Kopf. Sie hielt die paar Quadratmeter sauber, so gut es ging. Doch seit Karl von diesem Dämonen besessen war – was anderes konnte der Alkohol sein als eine Ausgeburt der Hölle? – zog er auch sie mit in den Abgrund. Es war wie ein Strudel, der sie beide unweigerlich in die Tiefe riss.
    Selbst der Pfarrer hatte bei ihrem Mann nichts ausrichten können.
    Rosa seufzte schwer. Sie blickte auf ihre rissigen Hände, die von der großen Wäsche rot aufgequollen waren, und fuhr sich durch ihr von grauen Strähnen durchzogenes Haar.
    Das war eben ihr Schicksal, mit dem sie nicht hadern durfte. Das war, was Gott ihr zugedacht hatte, um sie zu prüfen. Und wenn sie nur stark genug war, würde sie für diese schwere Prüfung einmal fürstlich belohnt werden. Sie sollte aufhören, sich zu beklagen. Schließlich war es Glück im Unglück gewesen, als der Ortsvorsteher Jakob ihr Arbeit im Pfarrhaus beschafft hatte. Das würde sie ihm nie vergessen. Und trotzdem: Das Leben fühlte sich an wie unter einer Zentnerlast, die sie zu erdrücken drohte. Es wurde einfach nicht besser mit Karl.
    Aus den Augenwinkeln sah Rosa, dass schon ein paar Gestalten vor dem unscheinbaren Gasthof herumlungerten. Doch ihr Mann war nicht unter ihnen. Rosa stutzte.
    »Na, Rosa«, rief einer der Kerle zu ihr herüber, »hat Zwieker seinen Rausch immer noch nicht ausgeschlafen?«
    Allgemeines Gelächter.
    »Kommt langsam in die Jahre, dein Alter, was?«, meinte ein anderer.
    Rosa beschleunigte ihre Schritte. Als sie ihre Hütte erreicht hatte, sah sie weder auf durcheinandergeworfenen Krempel, noch empfing sie lautes Schnarchen. Nein, Karl begrüßte sie mit einem schiefen Lächeln.
    Sollte Gott, der Herr, ein Wunder gewirkt haben?
    Rosa griff sich ans Herz. Doch als sie in Karls Augen blickte, erschrak sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie Furcht. Furcht vor ihrem eigenen Mann. Sie wusste nicht einmal, warum.
     
    *
     
    Nanna warf einen letzten Blick auf das alte Forsthaus, dann drehte sie sich seufzend um und machte sich auf den Nachhauseweg. Sie wusste, dass sie beobachtet wurde.
    Schon auf dem Weg hinauf zum Forsthaus, zu dem sie an diesem trüben, windstillen Abend an Fionas Seite aufgebrochen war, hatte sie das Gefühl gehabt, von drohenden, wachsamen Augen belauert zu werden. Ein Gefühl, das mit jedem Schritt stärker geworden war und keinen Moment nachgelassen hatte. Nicht, als sie den dunklen Flur des alten Forsthauses betrat. Nicht, als Fiona sie in die kleine Kammer ihres Vaters führte, in dem ein fremder junger Mann lag. Schnell hatte die Heilerin erkannt, dass der Verband zu fest um den verletzten Arm geschnürt war. Die entzündete Wunde benötigte dringend mehr Luft und eine beruhigende Salbe, die sie schon vor Tagen aus Gnadenwurz, Kamille und Ringelblumen vorbereitet hatte. Sie musste auch etwas gegen das Fieber tun.
    Der Junge mit dem zerzausten Haar hatte nicht einen Mucks von sich gegeben, während sie ihn untersuchte. Mit zusammengepressten Lippen hatte er sie wie eine Feindin angestarrt. Selbst als Nanna seinen verletzten Arm versehentlich so berührte, dass sich sein Gesicht vor Schmerz verzerrte, hatte er seinen Blick nicht von ihr abgewandt, sondern ihr angespannt, beinahe drohend, in die Augen geschaut.
    Auch das Fräulein, das fürchterlich nervös im Zimmer auf und ab gegangen war, wobei der Saum ihres viel zu großen Kleides über den Holzboden schleifte, hatte, seit sie zu Nannas Haus gekommen war, um sie um Hilfe zu bitten, kaum ein Wort an sie gerichtet.
    Und so hatte sich Nanna an das unausgesprochene Schweigegebot, das offenbar in dieser Kammer vorherrschte, gehalten, stumm – und von wer weiß wie vielen Augen beobachtet – ihre Arbeit verrichtet und keine der Fragen gestellt, die ihr auf der Seele brannten. Denn sie hatte sich entschieden, zu respektieren, dass Fiona ihr Geheimnis offenbar vorerst für sich behalten wollte. Dabei

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