Dreimond - Das verlorene Rudel
gab es vieles, das Nanna das Fräulein nur zu gern gefragt hätte.
Fionas seltsames Verhalten, Emeralds Erzählung – und jetzt die verdächtige Stichwunde. All das konnte kein Zufall mehr sein. War der Mann, den das Fräulein beschützte, also tatsächlich ein Wolf?
Freilich, man sah es ihm nicht an. Ja, er war gut gebaut für sein Alter und seine Vorsicht verriet, dass er schon weit mehr erlebt hatte als andere Jungen. Und doch – keine spitzen Zähne, kein auffälliger Haarwuchs oder ähnliche Anzeichen, die der Volksmund kannte, deuteten darauf hin, dass er mehr war als ein gewöhnlicher junger Mann. Höchstens seine Augen, sein wilder, forschender Blick, gaben ein wenig von dem preis, was sich vielleicht in ihm verbarg.
Besorgt blickte Nanna in den graublauen Himmel, der sich über Liebstein erstreckte. In was war das Fräulein da nur hineingeraten?
*
Fast hatte Nanna ihre Hütte erreicht, als ein lautes Scheppern ertönte. Sie stockte. Kam das etwa aus ihrer Hütte? Vorsichtig schlich sie näher und legte ihr Ohr an die Haustür.
»Mist!«, hörte sie eine Stimme aus dem Inneren fluchen. Sie riss mit einem Ruck die Tür auf – und blickte in das ertappte Gesicht eines jungen Burschen von vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahren. Es war Emerald, inmitten eines Durcheinanders aus Töpfen und Pfannen, die er wohl gerade umgeworfen hatte.
»Oh … äh, Nanna!«, stammelte der Sohn des Schweinehirten und fuhr sich verlegen durch das kurze Haar. »Ich wollte mit dir reden!«
» So, wolltest du das? Und da dachtest du dir, du wartest schon mal drinnen, während ich noch unterwegs bin?«
Der Junge errötete.
»Nun, ich … Unwichtig! Er baute sich vor ihr auf. «Ich weiß genau, dass du mehr weißt über diese Wölfe! Und ich gehe nicht eher weg, bis du mir die Wahrheit gesagt hast!«
»Die Wahrheit ist, dass du dir das alles nur eingebildet hast. Und jetzt verschwinde! Sonst mach’ ich dir Beine! Du solltest lieber im Bett liegen und deinen Arm schonen, als eine alte Frau wie mich zu erschrecken.«
Mit diesen Worten packte sie den protestierenden Jungen bei den Schultern und schob ihn vor die Tür.
»He!«, rief Emerald empört und schlug von außen gegen das Holz. Doch Nanna hatte schon die Tür verriegelt.
»Ich werde herausfinden, was es mit diesen … diesen Bestien auf sich hat. Verlass dich drauf!«
Seufzend ließ sich die Alte auf den Stuhl neben ihrem Kachelofen sinken und wartete, bis das Klopfen verstummte und Emerald sich leise fluchend davonmachte. Sie legte den Kopf zurück und schloss für einen Moment die Augen. Als gäbe es nicht schon genug Dinge, die ihr Kopfzerbrechen bereiteten.
Es konnte kein Zufall, musste ein Spiel der Schicksalsgeister sein, dass Fiona, ausgerechnet Isaaks Tochter, solchen Wesen Unterschlupf gewährte.
O Isaak! Was würdest du tun?
*
Die Tage vergingen und mehr als einmal schlich Nanna hinauf zum Forsthaus. Mit ihren Gedanken war sie bei Fiona und dem Fremden und ahnte nicht, wer ihr hasserfüllt nachstarrte, wann immer sie das Dorf verließ.
Kapitel 4
Gier
D ie Hände an die Scheiben des Fensters gepresst, stand Fiona in ihrem Schlafzimmer und sah zu, wie die Silhouetten dreier Gestalten im Schatten der Bäume des Johannesforstes verschwanden. Sie verspürte den Wunsch, Serafin, Lex und Carras nachzulaufen. Doch die drei Wolfsmenschen wollten unter sich sein, um Lex’ Genesung mit einer Pirsch durch den Wald zu feiern. Sie würden wiederkommen. Das hatten sie versprochen.
Angespannt fuhr sich Fiona durch ihr langes Haar. Was war nur los mit ihr? Sie war es doch gewohnt, allein zu sein. Sie wusste, dass sie sich freuen sollte, dass es Nanna gelungen war, Lex’ Verletzung zu heilen. Sie war ja auch wirklich erleichtert darüber. Und doch war ihr mit jedem Tag, an dem er sich besser fühlte, die bittere Wahrheit klarer geworden. Sobald der Wolfsmann stark genug wäre, würden ihre drei geheimnisvollen Gäste wieder davonziehen. Auf Nimmerwiedersehen. Sie hatten keinen Grund, länger bei ihr zu bleiben.
Was, wenn die Zeit schon jetzt gekommen war? Wenn die Jagd im Wald nur ein feiger Vorwand der Wölfe war, um ungehindert zu verschwinden? Dabei gab es noch so viel, das Fiona sie fragen wollte. Es gab noch so viel, was sie über sie lernen wollte.
Feindselig spähte sie in den Wald, der die Wolfsmänner mit all ihren Geheimnissen heimtückisch vor ihr versteckte. Ob sie ihnen nicht doch lieber nachschleichen
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