Dreizehn bei Tisch
weil er Ihnen nichts anhaben konnte; Sie sahen in ihm nur den Arbeitgeber, der Sie reichlich bezahlte. Sein Toben, seine Wutausbrüche, seine Schrullen kümmerten Sie nicht – Sie gingen darüber hinweg. Ich kann mir vorstellen, wie Sie, Miss Carroll, die Sie eine sehr starke Frau sind, sich achselzuckend vorhielten: Na, wenn schon, irgendeinen Haken hat jedes Ding – und hierauf Ihren Dienst munter weiter versahen. Und schließlich stand es Ihnen ja jeden Augenblick frei, das Haus zu verlassen. Ich aber konnte das nicht – ich gehörte dazu.«
»Wirklich, Geraldine, mir scheint es überflüssig, dass du alles dies ans Licht zerrst. Vater und Tochter vertragen sich häufig nicht. Aber je weniger Worte man darüber verliert, desto besser, habe ich immer gefunden.«
Geraldine wandte ihr kurzerhand den Rücken zu. »Monsieur Poirot, ich hasste meinen Vater und bin froh, dass er tot ist. Es bedeutet Freiheit für mich – Freiheit und Unabhängigkeit. Mich drängt es durchaus nicht, den Mörder auszukundschaften; er mag Gründe, gute Gründe, gehabt haben, die seine Tat rechtfertigen.«
»Mademoiselle, Sie machen sich eine gefährliche Lehre zu eigen.«
»Gibt die Verurteilung des Mörders Vater das Leben zurück?«
»Nein«, erwiderte Hercule Poirot kalt. »Aber sie bewahrt möglicherweise andere unschuldige Leute vor dem Schicksal, gleichfalls ermordet zu werden.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ein Mensch, der einmal tötete, tötet fast stets ein zweites Mal – meist noch öfter. Sehen Sie mich nicht so ungläubig an, Mademoiselle, das ist die Wahrheit. Vielleicht ist das eine Leben nach schrecklichen Gewissenskämpfen ausgelöscht worden, und wenn dann Gefahr droht, so geht der zweite Mord moralisch viel leichter von der Hand. Bei dem kleinsten Aufzucken von Argwohn folgt der dritte. Und nach und nach erwacht ein künstlerischer Stolz – das Töten ist zu einem Beruf geworden und wird beinahe mit Vergnügen ausgeübt!«
Das junge Mädchen schlug die Hände vors Gesicht. »Grauenhaft! Grauenhaft. Nein, das ist nicht wahr.«
»Und wenn ich Ihnen nun sage, dass es sich bereits ereignet hat? Dass der Mörder, um sich selbst zu retten, sich an einem zweiten Opfer vergriff.«
»Wie?«, rief Miss Carroll dazwischen. »Ein anderer Mord? Wo? Wer?«
Mein Freund blickte sie lächelnd an.
»Verzeihung, Mademoiselle. Ich erlaubte mir nur, ein kleines Beispiel anzuführen.«
»Ach so. Einen Augenblick glaubte ich wirklich… Nun, Geraldine, hast du jetzt genug Unsinn geredet?«
»Mademoiselle Carroll, Sie stehen, wie ich bemerke, auf meiner Seite«, meinte Poirot mit einer leichten Verneigung.
»Ich halte nicht viel von der Todesstrafe«, entgegnete Miss Carroll kurz. »Sonst aber stehe ich natürlich auf Ihrer Seite. Die Allgemeinheit muss geschützt werden.«
Geraldine strich mit einer müden Bewegung das Haar zurück.
»Weigern Sie sich noch immer, nur zu erzählen, weshalb mein Vater Sie hineinzog?«
»Ihn hineinzog?«, wiederholte die Sekretärin.
»Sie haben mich missverstanden, Miss Marsh – ich weigerte mich nicht, Ihnen von meinem Besuch bei Ihrem Vater zu erzählen.« Jetzt war Poirot gezwungen, mit offenen Karten zu spielen. »Ich erwog nur, wieweit ich die Unterredung vertraulich behandeln müsse. Ihr Vater hat mich nämlich nicht gerufen, sondern ich ersuchte um eine Unterredung wegen eines Klienten. Und dieser Klient war Lady Edgware.«
Ein eigenartiger Ausdruck glitt über Geraldines bleiches Gesicht. Anfänglich hielt ich ihn für Enttäuschung, und erst allmählich wurde mir klar, dass es Erleichterung war.
»Ich habe mich sehr töricht benommen«, sagte sie langsam, »aber ich dachte, mein Vater habe sich durch irgendeine Gefahr bedroht gefühlt. Wenn die Nerven einem einen Streich spielen, verfällt man auf die dümmsten Gedanken.«
»Meinen Sie, dass Lady Edgware den Mord beging?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Wer hat es denn sonst getan?«, trumpfte Miss Carroll auf. »Oder glaubst du etwa, dass Frauen ihrer Art moralische Hemmungen haben?«
»Trotzdem steht ihre Schuld nicht fest«, widersprach Geraldine. »Sie kann nach der Unterredung fortgegangen und der wirkliche Täter – vielleicht irgendein armer Wahnsinniger – nachher hereingekommen sein.«
»Alle Mörder sind geistig nicht ganz zurechnungsfähig, habe ich gelesen. Das hängt mit den Hormonen zusammen.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Ein junger Herr erschien auf der Schwelle, blieb linkisch
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